Wer rettet die Dörfer?
Irgendwann stockt es. So viele Menschen sind zur De-mons--tration am Hambacher Forst gekommen, dass sich ein Stau vom S-Bahnhof in Buir bis zur Kundgebung gebildet hat. »Bitte geht weiter auf die Äcker hinaus«, ruft eine Frau von der Bühne. Mehrere Zehntausend Menschen sind gekommen, um gegen die Kohle zu protestieren. Es ist die größte Demonstration, die das Rheinische Braunkohlerevier je gesehen hat.
Die Stimmung ist aufgekratzt wie auf einem Kindergeburtstag. »Hambi bleibt!«, skandieren die Menschen immer wieder. Fünf Frauen fassen sich an den Händen und tanzen wie Kinder im Kreis. Wo noch tags zuvor die Polizei niemanden durchließ, marschieren nun Tausende Menschen ungehindert in den Wald hinein. Viele wandern weiter bis zur Abbruchkante des Tagebaus, alle Warnungen der Polizisten ignorierend. Es ist ein Triumphzug auf staubigen Feldwegen. Die Menschen feiern einen Sieg über die Polizei, die diese Demonstration gar nicht erst erlauben wollte. Doch das Verwaltungsgericht Aachen hat das Demonstrationsverbot am Vortag gekippt.
Und es ist ein Triumphzug, weil ein weiteres Gericht den Plänen von RWE vorerst einen Riegel vorgeschoben hat. Der Energiekonzern wollte ab Mitte Oktober den Rest des Hambacher Forstes roden, um Braunkohle abzubauen. Doch das Oberverwaltungsgericht Münster hat die weitere Rodung solange gestoppt, bis über eine Klage des Naturschutzvereins BUND entschieden ist. Mindestens für die nächsten ein bis zwei Jahre ist der Wald also gerettet.
Schon verkündet Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), dies sei eine Chance für das Land, und ruft alle beteiligten Akteure zum Dialog auf. Zuvor stand Laschet stets an der Seite von RWE. Seine Regierung kam auf die Idee, die Baumhäuser der Umweltschützer im Wald räumen zu lassen — aus Gründen des Brandschutzes. Damit kam der wohl größte Polizeieinsatz in der Geschichte des Landes ins Rollen. Doch nach dem Urteil klingt Laschet plötzlich anders. Ist dies die Wende im Rheinischen Revier? Haben die Gerichte das Land zur Vernunft gebracht? Ist der Hambacher Forst das Fukushima der Kohlewirtschaft?
Auch in Kerpen-Manheim steht heute alles im Zeichen des Großevents. Das Dorf, in dem die Formel-eins-Fahrer Michael und Ralf Schumacher aufwuchsen, liegt nur wenige Kilometer vom Ort der Kundgebung entfernt. Staunend verfolgt Uwe Büsseler, wie Busse aus dem Allgäu und aus Polen am Ortseingang parken, wie Demonstranten mit Plakaten und Regenbogenfahnen durch die Straßen ziehen. Büsseler lässt einige von ihnen in sein Haus an der Buirer Straße, damit sie ihre Wasserflaschen auffüllen können. Heute haben er und die anderen Dorfbewohner mal was zu gucken, sonst sind sie es, die begafft werden. In dem sterbenden Dorf Manheim ist eine Art Grusel-Tourismus entstanden. An sonnigen Tagen fahren die Menschen im Cabrio oder auf dem E-Bike durch Manheim und gucken, wie der Ort langsam verfällt. Schau mal, da wohnt noch einer!
Manheim muss dem Tagebau weichen. Von knapp 1700 Einwohnern sind noch rund 30 da, plus einige Dutzend Flüchtlinge, doch auch die werden weniger. Metzger, Bäcker, Supermarkt und Kneipe haben schon vor Jahren aufgegeben. Spätestens 2024 wird Manheim abgebaggert, die ersten Straßenzüge sind schon weg. Uwe Büsseler und seine Frau harren noch ein Jahr aus, bis ihr Haus im Reißbrett-Dorf »Manheim (neu)« fertig ist und sie umziehen können. Die Euphorie, die heute in der Luft liegt, hat für sie einen bitteren Nachgeschmack. Für sie kommt der Protest zu spät. »Selbst wenn der Tagebau jetzt gestoppt würde, uns hilft das nichts mehr. Manheim ist tot.«
Seit mehr als 150 Jahren wird westlich von Köln Braunkohle abgebaut. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg müssen die ersten Menschen ihre Häuser dafür verlassen. Ab 1949 werden weit mehr als 50 Dörfer weggebaggert. Erst vor zwei Jahren fasst die rot-grüne Landesregierung eine neue Leitentscheidung zur Zukunft der drei Tagebaue Hambach, Garzweiler und Inden. Darin heißt es, der Braunkohlenabbau sei im Rheinischen Revier weiterhin erforderlich: Der Tagebau Garzweiler II wird zwar so verkleinert, dass die Orte Holzweiler, Dackweiler und ein Hof nicht umgesiedelt werden. In Hambach und Inden darf RWE jedoch weitermachen wie geplant. Die Grünen winden sich, stimmen aber letztlich zu.
»Ja zur Heimat. Wir bleiben hier«, steht auf den Schildern, und »Stop Rheinbraun«. Die Schilder hängen seit Jahrzehnten an den Ortseingängen von Keyenberg, einem Ortsteil von Erkelenz am Tagebau Garzweiler. Rheinbraun ist der Vorgänger von RWE. In den 80er Jahren sickerte durch, dass auch Keyenberg dem Tagebau weichen soll. Es gab Proteste, dann wieder Gerüchte, dass es doch anders kommen werde. Es wechselten Bundes- und Landesregierungen, es kam die Energiewende, doch Rheinbraun und später RWE hielten an der Kohleförderung fest. Keyenberg wird abgerissen, die Menschen werden umgesiedelt.
Man sieht erst auf den zweiten Blick, dass viele Häuser längst verlassen sind. Die Gardinen in den Fenstern sind verstaubt, die Topfpflanzen verdorrt. Die Briefschlitze in den Haustüren sind abgeklebt. Die schmalen Bürgersteige sind hin und wieder unterbrochen von Absperrungen vor den Hauseingängen. Sobald jemand Keyenberg verlässt, klemmt RWE sofort Strom und Wasser ab. Es wirkt, als fürchte der Konzern, die Menschen könnten es sich noch einmal anders überlegen und zurückkehren.
Noch rund 800 Menschen wohnen in Keyenberg. Das gesellschaftliche Leben aber ist nahezu zum Erliegen ge-kom--men. In zwei, drei Jahren sollen die Bagger kommen. Nichts wird übrigbleiben von Keyenberg, RWE siedelt die Menschen auf ein Feld hinter Erkelenz um. Sein Name: »Keyen-berg (neu)«. Der Zusatz soll später entfallen, wenn an der alten Stelle das Loch klafft — nicht nur Keyenberg, auch seine Geschichte wird getilgt, als habe es das alte Dorf nie gegeben.
Hedwig Drabik steht vor dem alten Backsteinhaus neben der Kirche Heilig Kreuz. Mit einem Kehrblech sammelt sie Blüten auf, die aus den Blumentöpfen vom Treppenabsatz auf das Pflaster gefallen sind. Hedwig Drabik ist es gewohnt, Ordnung zu halten. Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie Küsterin der Pfarrei und wohnt neben der neogotischen Kirche. Drabik ist jetzt 85 Jahre alt. Für sie ist es unvorstellbar, wegzuziehen und die Kirche und Keyenberg zurückzulassen, damit RWE alles abreißt und in einem Loch verschwinden lässt.
»Sie müssen sich bitte die Kirche anschauen«, sagt Drabik und steigt die Treppe hinauf, um den Schlüssel zu holen. »Man kann das doch nicht alles abreißen«, sagt sie und zeigt auf den prächtigen Hochaltar, die mit Holzschnitzereien verzierte Kanzel, die Kirchenfenster und die Anna-selbdritt-Gruppe aus dem 15. Jahrhundert. Zwar werde ein Teil der Ausstattung erhalten, »aber das gehört doch zusammen, das gehört doch hier hin«, sagt Drabik.
Man gewinnt den Eindruck, es strapaziere ihren so festen Glauben, dass ein Energiekonzern ungehindert Dörfer und Kirchen abreißt. »Ich denke dann immer: Wir sind nur Gast auf Erden«, sagt Drabik und zitiert das Lied aus dem Gotteslob. Drabik sagt, sie bete dafür, dass Keyenberg und die anderen Dörfer doch noch verschont bleiben. Sie irritiert, dass die Kirche keinen Widerstand leistete. »Ich hätte nie geglaubt, dass es auch bei der Kirche nur um Geld geht«, sagt sie. Im Neubaugebiet hinter dem Zentrum von Erke-lenz werde als Ersatz eine Kapelle errichtet. Sie hat die Pläne gesehen, völlig schmucklos sei das Gebäude. Nicht einmal Kniebretter werde es in den Kirchenbänken geben. »Aber es ist doch eine katholische Kirche«, habe sie dem Architekten gesagt. Der aber habe das gar nicht verstanden.
Dass im Hambacher Forst, im anderen Tagebau der RWE, die Menschen nun in den Bäumen wohnen und Widerstand leisten, beeindruckt Drabik. »In den Zeitungen steht, das seien alles Chaoten, aber ich weiß, dass das nicht stimmt«, sagt sie. »Das sind gute Menschen, die Widerstand leisten.« Ihre Tochter habe ihr davon berichtet. Sie sei zu den Baumbesetzern gefahren, um ihnen Essen zu bringen. Die Besetzer hätten um Müsli-Riegel gebeten. Die habe ihre Tochter ihnen gebracht, aber es seien nicht genug gewesen. So viele Menschen lebten dort. Ihre Tochter habe dann noch mehr Müsli-Riegel gekauft.
Ihre Tochter sage auch, um RWE noch zu stoppen, müsse man die Grünen wählen. »Aber ich kann das nicht. Wir haben hier schon alle mal grün gewählt, und dann haben sie doch ihr Wort gebrochen.« Vor der Landtagswahl hatte man Drabik und den anderen in Keyenberg versprochen, der Tagebau würde gestoppt. Aber als die Grünen an der Regierung waren, hätten auch sie bloß getan, was alle -Landesregierungen seit Jahrzehnten getan haben: RWE gewähren lassen, damit sie alte Dörfer mit Kirchen und Schulen abreißen, Nachbarschaften und Vereine zerstören, Menschen in Neubausiedlungen vertreiben und riesige Löcher in die Landschaft graben.
Beim Abschied sagt Drabik, man möchte doch bitte schon vorgehen. Gerade hat sie bemerkt, dass das Altartuch noch einmal glattgestrichen werden muss. Morgen trifft man sich hier zum Rosenkranzgebet.
Am nächsten Tag steht Norbert Winzen auf der Koppel seines Bauernhofs und sagt, er sei zwar nicht sehr -gläubig. Aber die Kirche sei ein Ort, an dem viele Erinnerungen hän-gen. Erstkommunion, Firmung, all die Hochzeiten hier im Dorf. Winzen ist Bauer in Keyenberg, er lebt in dem gro-ßen zweigeschossigen Backsteingebäude, an dem sich der Hof mit vier Flügeln anschließt. Die Winzens leben als Großfamilie hier, für die Kinder sind Trampolin und Klettergerüst im Hof aufgestellt. Man hört die Kirchenglocken läuten. »Das ist derselbe Klang, den hier schon die Menschen vor Hunderten Jahren gehört haben«, sagt Winzen. Bald ist das vorbei. Seit sich der Tagebau näher frisst, hört man die Pumpen, die das Grundwasser abpumpen. Dazu kommt das grelle Licht in der Nacht.
Der Tagebau steht nie still.
Fünfhundert Meter östlich von hier verlief die Autobahn A 61, dahinter lag einst Borschemich, heute ist das Dorf verschwunden. Hinter dem Tagebau ragen weiße Industrie-Quellwolken in den sonst klaren Herbsthimmel. Seltsam gebeugt stehen die Rauchfahnen am Horizont, wie erschöpfte Riesen. Die RWE-Kraftwerke Frimmersdorf und Neurath stehen knapp fünfzehn Kilometer entfernt in Grevenbroich. Das Kraftwerk Neurath ist eines der größten und dreckigsten in Europa.
Seit zwei Jahren wird am Gutachten für seinen Hof gearbeitet, sagt Winzen. RWE sage, er solle sich ein gleichwertiges Grundstück suchen. »Aber so etwas baut man heute nicht mehr, allein weil sich Bauvorschriften geändert haben.« RWE kostet den Bauer viel Lebenszeit. Man lebe gut fünfzehn Jahre mit einer ständigen Belastung: Die Jahre der Ungewissheit, sobald die ersten Gerüchte über die Um--siedlung aufkommen. Das Hin und Her zwischen Bangen und Hoffen, die Proteste, die Prozesse. Es folgen Gutach-ten, Verhandlungen, Gespräche mit anderen Betroffenen. Schließ-lich die tatsächliche Umsiedlung, der schwere Neuanfang, die neue Nachbarschaft. Die Erkenntnis, dass alles verloren ist.
Im Haus zeigt Winzen den Fliesenboden mit den hand-gemalten Kacheln, die verzierte Holztreppe, schließlich das Wohnzimmer, die gute Stube des Hauses, die Bank und den schweren, kunstvollen Bauernschrank, alles voll mit Erinnerungen. »Das können wir doch nirgendwo so wieder haben, wie soll das gehen?« Winzen überlegt, ob er alles noch mal fotografieren lassen soll. »Aber was hätte ich davon?« In der Ecke des Wohnzimmers neben der Flügel-tür steht ein Notenständer mit einem Übungsheft, »Heute hier, morgen dort« ist aufgeschlagen.
Winzen will sich der Umsiedlung widersetzen. Aber die Zerstörung von Keyenberg hat längst begonnen. RWE habe die Dorfgemeinschaft gespalten, das sei Strategie des Konzerns. RWE-Mitarbeiter spendeten Geld für Vereine, biederten sich an. »Da lief mal einer von RWE im Schützenzug mit, darüber wurde hier im Dorf heftig gestritten.« Vor dem Loch kommt der Riss: die Spaltung der Dorfgemeinschaft. Da sind diejenigen, die bleiben wollen bis zu-letzt, weil sie daran zerbrechen würden, alles hinter sich zu lassen. Aber da sind auch jene, die sich abgefunden haben mit ihrem Schicksal, die großzügig entschädigt werden und bereits umgesiedelt sind, oft sind es jene, die erst vor ein paar Jahren zugezogen sind. Oder die Alten, die sich fügen, und nicht den schleichenden Tod ihrer Heimat erleben wollen. Für sie hat RWE die Reißbrett-Dörfer hinter Erkelenz angelegt.
»Keyenberg-neu? Nie gehört«, sagt der Tankwart in Erkelenz. Auch die beiden jungen Frauen an der Ampel haben keine Ahnung: »Ich kenn nur das alte Keyenberg, da ist aber nichts los«, sagt die eine. Ein älterer Herr weist in die falsche Richtung. Aber schließlich weiß ein anderer: »Immer weiter da runter, nur neue Häuser und Baustellen nebeneinander – kann man nicht übersehen.« Die Parzellen sind abgezirkelt, Baugrundstücke, Rohbauten, ein paar fertige Häuser. RWE verwirklicht den Traum vom modernen Eigenheim. An einem der neuen Häuser stehen zwei ältere Paare auf der Rasenfläche des Gartens. Das Haus sieht aus wie auf den Werbetafeln, die hier überall aufgestellt sind und die für »Ihr Traumhaus« werben. »Ja, das neue Keyenberg ist schwierig zu finden, steht in keinem Navi«, sagt der Besitzer. »Ich habe meiner Versicherung und der Zeitung schon so oft geschrieben, das es Keyenberg--neu heißt, aber das verstehen die nicht, hier kommt oft die Post nicht an.« Das Paar war unter den ersten, die wegzogen. Der Mann reibt in einer Geste Daumen und Zeigefinger. »Finanziell hat sich das gelohnt«, sagt er. »Aber ich bin auch gut mit Papierkram.« Er habe erfolgreich mit RWE verhandelt, meint er. Seine Frau sagt, sie hätten überlegt und dann gesagt: Lieber jetzt als später. »Wir sind um die siebzig, warum sollen wir noch drei, vier Jahre in einem Dorf warten, das langsam alle verlassen? Und so billig hätten wir sonst nie barrierefrei wohnen können. Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass ich hier keine Treppen steigen muss.« Ja, sie seien jetzt zufrieden. »Aber am Anfang hast Du geweint, erinnere Dich, wie wir telefoniert haben!«, wirft die Frau ein, die mit ihrem Mann zu Besuch ist.
Wenige Stunden zuvor hatte der Heimatverein seine Versammlung im Alten Rathaus von Erkelenz. Es steht im Zentrum der Mittelstadt, wo alles gepflegt wirkt: Geschäfte, Cafés, Imbisse, kein Leerstand, kein Müll auf den Straßen. Das Alte Rathaus ist das Wahrzeichen von Erkelenz, 16. Jahrhundert, Backsteingotik, Arkaden im Parterre. Hinter der schweren Tür zum alten Ratssaal im ersten Stock singt Mundartdichter Theo Schläger Lieder im Erkelenzer Platt. Es geht darum, dass nichts bleibt, wie es ist, es geht um den Tagebau.
All das, was hier verschwindet, will der Heimatverein bewahren: in einem virtuellen Museum. Gerade wird die Homepage vorgestellt, die die alten, abgerissenen Orte wieder lebendig werden lässt mit Fotos, Anekdoten und Kugelpanoramen, wie Wolfgang Lothmann vom Heimatverein erläutert. Er rettet die Dörfer quasi ins Internet. Keyenberg ist eines der ersten. Lothmann hat lange dort gewohnt und stellt nun alte Fotos und seine Erinnerungen für das Virtuelle Museum zur Verfügung. Doch die Präsentation hakt. »Vorführeffekt«, sagt Lothmann. Die rund sechzig Besucher lachen nachsichtig. Bürgermeister Peter Jansen (CDU) packt sein Tablet aus. »Hier kann man das besser sehen«, sagt er. Jansen ist begeistert. Man wollte kein langweiliges Heimatmuseum, sondern mit der Präsentation im Netz auch die Jugend ansprechen. Wenn man dann mit dem Bürgermeister auf dem Marktplatz beim Cappuccino sitzt, hebt er zu einem Vortrag an. Der Tagebau ist sein Thema. »Gut 25 Prozent meiner Zeit verbringe ich damit.« Jansen erzählt, wie seine Kommune unter dem Tagebau leidet. Von mehr als 40 Ortschaften werden neun umgesiedelt. Jansen erzählt, wie er mit den unterschiedlichen Landesregierungen, einem übermächtigen Energiekonzern und dem für den Tagebau zuständigen Braunkohlenausschuss der Bezirksregierung Köln verhandeln musste. »Da sitzen manche, da denke ich, die haben ein Stück Brikett im Kopf. Da wurde fast nie etwas gegen RWE oder die Vorschläge der Landesregierung beschlossen.« Den Protest gegen die Rodung des Hambacher Walds findet er berechtigt. »Aber wo waren all die Demonstranten, als die Dörfer abgerissen und die Menschen umgesiedelt wurden?«, fragt er. Die Zeit der Braunkohle sei bald vorbei, sagt der Bürgermeister, der selbst in einem Plusenergie-Haus wohnt. Doch der Tagebau sei nicht mehr zu stoppen. Und das sei sogar gut. »Denn das ewige Hin und Her, das Hoffen und Bangen macht die Menschen verrückt.« Ihm gehe es darum, das bestmögliche für Erkelenz und die betroffenen Bürger herauszuholen. Alle Parteien in der Stadt seien gegen den Tagebau. Aber nach vielen juristischen Niederlagen seien sie pragmatisch geworden. »Das Tagesgeschäft kriegen wir nur zusammen mit RWE umgesetzt. Die genießen hier seit fünf Jahrzehnten Narrenfreiheit.« Es werde immer behauptet, die Braunkohle komme ohne Subventionen aus. Das stimme nicht: Für Plätze, Kanäle und Straßen in den neuen, umgesiedelten Orten etwa musste die Stadt Erkelenz Städtebauförderung beantragen, erzählt Jansen. RWE habe nur 60 Prozent gezahlt, der Rest seien Fördergelder gewesen, auch das Land habe gezahlt. Inzwischen gibt es keine Städtebauförderung mehr für die Umsiedlung, RWE zahlt komplett. Für Jansen ein Sieg. Er wird zur nächsten Wahl wieder antreten, er ist hier noch nicht fertig.
Gudrun Zentis wohnt in Nideggen im Kreis Düren. Bis im vergangenen Jahr saß sie für die Grünen im Landtag. Als sie Ende der 90er Jahre in den Kreistag gewählt wurde, hatte sie ihr »Braunkohle-Schlüsselerlebnis«, wie sie es heute nennt. Eine Vorlage zum Tagebau Inden, die Tausende Menschen betraf und die Landschaft völlig umpflügen sollte, wurde dort »einfach so durchgewunken«. Das habe man alles bereits im Braunkohlenausschuss entschieden, sagten ihr die Fraktionsvorsitzenden von SPD und CDU. So wurde der Tagebau ihr Thema.
Hier feiere kein Verein ein Fest, ohne dass irgendwo ein RWE-Logo zu sehen sei. »RWE ist als Sponsor überall dabei. Viele ihrer Mitarbeiter engagieren sich in Vereinen und schaffen Verbindungen.« Im Kreistag, in den Stadträten, auch in kirchlichen Gremien — überall seien RWE-Mitarbeiter vertreten und bestimmten mit. Ende September pilgerten Katholiken mit dem Aachener Friedenskreuz am Hambacher Wald, auch Gudrun Zentis war dabei. In Morschenich, das dem Tagebau weichen muss, ließ man sie nicht in die Kirche. »Der Gemeinderat wollte sein Verhältnis zu RWE nicht trüben.« Die Kirche bekomme dort 2,7 Millionen Euro Entschädigung für den Abriss des Gotteshauses.
Manche Kommunen wie Niederzier haben nur dank der Gewerbesteuereinnahmen durch RWE noch einen ausgeglichenen Haushalt. Andere Kommunen darben dahin, manche sind überschuldet. »RWE zeigt sich stets als zuverlässiger und großzügiger Partner der Kommunen und unterstützt sie beispielsweise mit Energieberatungen.« Selbst, wenn ein Dienstwagen den Geist aufgebe, helfe RWE großzügig dabei, eine Lösung zu finden. »Die Öffentlichkeit kann davon so gut wie nichts wahrnehmen«, so Zentis.
RWE ist auch ein großer Anzeigenkunde der lokalen Tageszeitungen. Umsiedlungen und Kirchenabrisse waren darin kein großes Thema, die »Terroristen« und angebliche Tunnelsysteme im Wald dafür umso mehr. Drucken die Zeitungen doch mal unschöne Bilder von zwangsgeräumten Aktivisten, prangen am nächsten Tag große RWE-Anzeigen im Blatt, zum Beispiel zu neuen Naturerlebnispfa-den auf der Sophienhöhe, einer rekultivierten Abraumhalde, mit der Haselmaus »Sophie« als Maskottchen.
Für seine Mitarbeiter sorgt RWE gut. Die Bezahlung ist so ordentlich, dass selbst Köche in den RWE-Kantinen sich ein eigenes Haus bauen können. Ein ehemaliger Mitarbeiter einer Kraftwerkskantine schildert die »gute Rundumversorgung«. Kein Kollege habe sich krumm machen müssen. »Wenn ich jemandem erzählte, ich arbeite bei RWE, hieß es: Ah, bei Ruhe-Wärme-Erholung.« Er bekam 14 Monatsgehälter, Vorzugsaktien und sogenannte Stromdeputate: Die RWE-Belegschaft bekommt den Strom zu Hause stark vergünstigt. Früher gab es sogar Zulagen für Mitarbeiter, wenn sie mit Strom heizten. Viele schafften sich bis in die 90er Jahre Nachtspeicheröfen an oder stellten eine Blockspeicherheizung in den Keller, auch der ehemalige RWE-Koch. »Im Grunde war es ein Anreiz, mit Strom zu heizen, so billig war das.« Noch heute, im Ruhestand, zahlt RWE ihm mehr als die Hälfte seiner Stromrechnung. In der Kantine bewirtete er oft Besuchergruppen aus aller Welt. Sie waren beeindruckt vom Tagebau und den riesigen Schaufelradbaggern. »Wir waren schon stolz darauf. Von Umwelt-zerstörung war da keine Rede.« Heute wirkt das alles anders auf ihn. Die Bilder aus dem Hambacher Forst gehen ihm nahe. »Meine Kinder haben da laufen gelernt. Es tut schon weh, das zu sehen.«
Womöglich bleibt nun der letzte Rest des Waldes übrig. RWE, der Konzern, der die Energiewende verschlafen hat, steckt in der Krise. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Münster die Rodung vorläufig untersagte, brach der Aktien-wert von RWE ein, beteiligte Kommunen wie Dortmund verloren Millionenbeträge. Schon vermeldet das Unterneh-men, man werde die Förderleistung im Tagebau Hambach um bis zu 38 Prozent drosseln. Ende 2019 werden die Bagger zum Stillstand kommen, sofern bis dahin nicht gerodet werden könne, sagt ein Sprecher.
Die Grünen fordern unterdessen eine neue Leitentscheidung, auch CDU-Fraktionschef Bodo Löttgen sagt, die Landesregierung solle sich mit der Frage nach einer neuen Leitentscheidung zur Braunkohle beschäftigen.
Stefan Götz ist Vorsitzender des Braunkohlenausschusses der Bezirksregierung Köln. Kurz vor dem Gespräch trifft die Meldung vom Rodungsstopp ein. Das Urteil bedeute zunächst nicht viel, sagt der CDU-Politiker Götz. Seine Aufgabe ist es, im Gremium den Braunkohleplan umzusetzen, den die Landes-regie-rung beschlossen hat — und der gilt noch. »Da geht es nicht um das Ob, sondern um das Wie«, sagt Götz. Erst wenn es neue Erkenntnisse gebe, könne der Gesamtplan geändert werden.
Aber was kommt nach dem Tagebau? Es gibt die Idee, die sogenannten Restlöcher mit Wasser volllaufen zu lassen. Das Revier als Seenlandschaft? Götz zieht die Augenbrauen hoch. »Das wird doch Jahrzehnte dauern, bis die gefüllt sind.« Zwar gebe es Pläne, Wasser aus dem Rhein dorthin zu leiten. Aber wie, das kann auch der Vorsitzende nicht sagen. Überhaupt, mit Seen sei es nicht getan, sondern: Wie entwickelt sich die Region? Dafür würden jetzt Pläne gemacht. »Wir müssen verhindern, dass eines Morgens alle aufwachen und sagen: Huch, mit der Kohle ist es vorbei, was jetzt?«
Uwe Büsseler aus dem Geisterdorf Manheim ist gerührt davon, dass sich nun so viele Menschen für seine Heimat interessieren. »Es ist genial, wie die Leute RWE zeigen, dass man so nicht weiter-machen kann.« Doch für ihn und die Manheimer kommt der Protest zu spät. »Vor vier, fünf Jahren wäre noch Hoffnung da gewesen. Vielleicht haben wir Manheim zu früh aufgegeben.«