Am Anfang war der Selbstversuch

Yvonne Greiner sprach mit Günter Wallraff über Gott und die Welt – über die Moschee und »Die Satanischen Verse«, über Call-Center und Betrug am Telefon

StadtRevue: Herr, Wallraff, Ihr Vorschlag, die »Satanischen Verse« von Salman Rushdie in der Ehrenfelder Moschee zu lesen, war – wie Sie selbst sagten – ein spontaner Vorschlag. Jetzt ist er zwei Wochen alt, finden Sie ihn immer noch gut?

Günter Wallraff: Ja, ich finde ihn jetzt erst richtig gut. Ich hatte zuerst Zweifel, ich habe durchaus schon mal bei meinen spontanen Ideen das Gefühl: Bin ich eventuell über das Ziel hinausgeschossen? Aber hier habe ich den Eindruck, es kann etwas Sinnvolles übrig bleiben. Allein schon die Tatsache, dass sich die Kölner DITIP-Moscheengemeinde – immer­hin die größte in Deutschland – nunmehr erst­malig in der Geschichte des Islam ganz eindeutig schriftlich von der Fatwa gegen Rushdie distanziert hat – das ist doch was! Bisher hat man sich an der Fatwa vorbeigedrückt, sie klammheimlich für richtig befunden, oder man hat sich aus falsch verstandenem Lagerdenken rausgehalten. Und plötzlich diese Distanzierung, DITIP hätte das nicht machen müssen, aber es war ihnen ein Bedürfnis. Ich habe sie ein bisschen dazu animiert, mehr will ich gar nicht sagen.

Welche Reaktionen gibt es ansonsten auf Ihren Vorschlag?

Ich wohne in Ehrenfeld, in einem Viertel, wo viele Nachbarn Muslime sind, und einige auch in die Moschee gehen. Ich erlebe keinerlei Anfeindung. Einige fragen, ob es nicht zu gefährlich sei, diese Lesung zu machen, viele sind interessiert: Kann man die Satanischen Verse lesen, fragen sie, gibt es die auf Türkisch? Nein, bisher nicht. Ich habe mal in kleinerem Kreis eine Lesung gemacht, da waren auch einige Nachbarn, die in die Moschee gehen. Und siehe da – das war so, als hätte man früher Katholiken in Bayern aus der Blechtrommel vorgelesen! Einige waren ein bisschen pikiert, andere mussten hellauf lachen, gerade an den Stellen, wo man Anstoß nehmen könnte, und es gab danach eine interessante Diskussion. Ich habe den Eindruck, ich werde im Moment weniger von Muslimen attackiert als von einigen Feuilletonisten, die allerdings auch weit weg vom Geschehen sind und nicht beurteilen können, wie mein Vorschlag entstanden ist.

Muss man nicht das Buch von der Fatwa trennen? Es gibt doch auch ein Recht darauf, die »Satanischen Verse« nicht zu lesen oder sie nicht gut zu finden. Erzwingen Sie mit der Koppelung von Buch und Fatwa nicht eine Art von Bekenntnis, um das es gar nicht gehen kann?

Es ist gravierend, dass ein Autor, dass Salman Rushdie nach wie vor mit dem Tode bedroht wird, jetzt sogar erneut. Dazu hat es bisher nie Distanzierungen von muslimischer Seite gegeben. Der Hintergrund meines Vorschlags ist, dass ich gebeten wurde, mich als Beirat der Ehrenfelder Moschee zu engagieren. Gleichzeitig sagte die DITIP: Wir wollen uns öffnen, wir wollen einen kritischen Dialog. Und genau da nehme ich sie beim Wort. Einen Irrtum gilt es noch zu korrigieren: Die Lesung soll nicht im Sakralraum, sondern im Gemein­dezentrum stattfinden. Trotzdem wird mir im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vorge­worfen, das wäre ja das Gleiche, als würde ich vorschlagen, im Dom einen ökumenischen Schwulengottesdienst abzuhalten. Ja mein Gott, eigentlich eine konsequente Idee! Sollen sie doch mal damit anfangen, ich bin der Erste, der das unterstützen würde! Dennoch gibt es einen elementaren Unterschied: Wer so etwas fordert, würde von der Katholischen Kirche nicht mit dem Tode bedroht – die Zeiten sind zum Glück vorbei.

Befürworten Sie den Moscheebau in Eh­renfeld?

Ich bin dafür, auch wenn ich kein glühender Verfechter bin. Die Grundlage ist die Religionsfreiheit. Und was in dieser hysterisierten, von Pro Köln aufgeheizten Diskussion übrigens verschwiegen wird, ist, dass die türkischen Vertreter ein viel unauffälligeres Gebäude woll­ten. Anfangs war auch kein Minarett ge­plant. Es waren die christlichen Vertreter im architektonischen Beirat, die sagten: Wenn schon, dann soll das auch richtig nach Moschee aussehen. Und ich meine, wenn es jetzt nach Moschee aussieht, dann soll es auch eine richtig stattliche, vorzeigbare sein, dann soll man doch jetzt nicht an fünf oder zehn Metern ­Minaretthöhe rumnörgeln, dann müssen auch die Proportionen stimmen. Gesellschaftlich betrachtet wird alles auf die Integration der hier lebenden Muslime hinauslaufen. Aber wir machen es ihnen verdammt schwer, wir de­mütigen sie. Ich finde es beschämend, dass sie für Selbstverständlichkeiten als Bittsteller daherkommen müssen.

Verstehen Sie denn Ihren Vorschlag, die »Satanischen Verse« in der Moschee zu lesen, tatsächlich als Beitrag zur Integration?

Ja, das ist mein Beitrag, meine ureigene un­orthodoxe Art, sich einzumischen. Da werde ich auch hin und wieder ganz bewusst zum Störfaktor oder – bildlich gesprochen – da bin ich der Stein des Anstoßes.

Aber polarisiert der Vorschlag nicht eher? Der Text ist doch sehr umstritten.

Aber warum ist er umstritten? Es ist ein lite­rarisches Meisterwerk! Und auch eine vorübergehende Polarisierung kann hilfreich sein, das Schlimmste ist, wenn sich alles in Schweigezonen bewegt. Im christlich-islamischen Dialog auf Gemeindeebene müsste es eher mehr als weniger Konfrontation geben – und eine ausgeprägtere Streitkultur.

Aber Sie erreichen doch mit Ihrem Vorschlag nur eine kleine intellektuelle Schicht.

Nein, jetzt schon wird er hier in der Nachbarschaft diskutiert, und auch in der gesamten tür­kischen Öffentlichkeit. Zum ersten Mal in mei­nem Leben werde ich plötzlich in der Welt positiv erwähnt – »Respekt vor Wallraff« hieß es da. Da war ich doch sehr verunsichert. Was mache ich, wenn mich jetzt auch noch die Bild-Zeitung lobt? Sollte ich das mal erleben, kann ich eigentlich einpacken, dann wäre ich verein­nahmt. Aber dazu haben sie mich zu sehr auf dem Kieker. Auf dieser Feindschaft bestehe ich auch, solange sich an der Menschenverachtung dieses Blattes nichts ändert. Deshalb finde ich es, nebenbei bemerkt, besonders schändlich und schamlos, dass sich ausgerechnet Alice Schwarzer aus reiner Karrieregeilheit für dieses Blatt bundesweit und lebensgroß prostituiert. Wobei ich die Pros­tituierten in Schutz nehmen muss – die absolvieren unter härtesten Bedingungen einen Dienstleistungsberuf.

Sie sind seit kurzem wieder undercover unterwegs, im Auftrag der ZEIT. Mit Ihrer Reportage aus Kölner Call-Centern haben Sie zutage gefördert, dass die Angestellten dort schlecht bezahlt werden, die Arbeitsbedingungen miserabel und die Geschäftsabschlüsse teils betrügerisch sind. War das nicht längst bekannt? Braucht man dafür eine Undercover-Recherche?

Ja. Es ist zu wenig über die Branche bekannt und zu wenig aus deren Innenleben. Es hat noch nie eine solche Insider-Geschichte gegeben. Bereits dieser Selbstversuch hat eine so breite Diskussion ausgelöst, die ich mir in dem Ausmaß nicht vorstellen konnte. Ich habe zuvor über Anzeigen in Tageszeitungen und im Internet Insider aufgefordert, sich zu melden – aber ohne Erfolg. Jetzt sind es schon über hundert, die sich mir anvertraut haben. Ich arbeite auch an einem Film mit, der das Call-Center-Unwesen noch grundsätzlicher zeigt. Was ich seinerzeit mit meiner Bild-­Infiltration geschafft habe, passiert hier im Kleinen: Der Anfang war der Selbstversuch, danach sprachen Insider und Opfer, und so weitet sich die Geschichte langsam aus.

Sie wollen also Details zutage fördern. Aber Sie haben doch vor der Undercover-Reportage gewusst, was Sie im Call-Center erwarten wird?

Nein, es überstieg bei weitem mein Vorstellungsvermögen. Es war anders schlimm, teilweise schlimmer schlimm, eine Geheimwelt mit sektenartigen Strukturen. Es kommt immer auf die Veranschaulichung an. Sie können von außen alles behaupten, aber es hat nicht die Überzeugungskraft, als wenn Sie den Kopf hinhalten. Ich hatte mit Prozessen gerechnet, habe sie sogar dazu aufgefordert. Ich hatte früher immer Nachspiele vor Gerichten, das hat mit dafür gesorgt, dass eine größere Öffentlichkeit Anteil genommen hat. Seltsamerweise hat das diesmal nicht funktioniert.

Versuchen Sie auch politisch Einfluss zu nehmen?

Ich habe dreimal versucht, Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zu einer Stellungnahme zu bewegen, aber ohne Erfolg. Die Lobby ist enorm mächtig. Schließlich werden zum Beispiel auch die Lose der Süddeutschen Klassen­lotterie durch Call-Center vertickt, und da verdient der Staat: eine Milliarde geht jährlich in die Länderkassen. Doch 95 Prozent der Geschäfte kommen durch Telefon-Drücker-Methoden auf betrügerische Weise zustande. Auch Telefongesellschaften lagern Vertragsabschlüsse in Call-Center aus. Ich habe jetzt eidesstattliche Erklärungen von Insidern, die bestätigen: Den Kunden am Telefon wird ­gesagt, man würde ihnen Optimierungsverträge anbieten. Doch tatsächlich bekommen die Anrufer nur Provisionen, wenn sie den Kunden schlechtere Verträge verkaufen. Und der Datenschutz ist gar nichts mehr wert: Bei jedem neuen Telefonanschluss, bei jedem Umzug werden Ihre Daten bereits gehandelt, und dann bekommen Sie solche Anrufe. Widerrechtlich werden die Anrufe teilweise sogar aufgezeichnet, ohne Einverständnis des Angerufenen. Hier im architektonisch so beein­druckenden Köln-Turm im Mediapark sitzen einige der »ehrenwerten« Betrügerfirmen.

Warum sind Sie so schnell wieder raus aus dem Call-Center-Job?

Ich war nur einige Tage in zwei Call-Centern, weil ich mich doch schwer getan habe, weil ich mich nicht zu den betrügerischen Verkäufen überwinden konnte. Ich habe allerdings danach noch einen Praktikanten hingeschickt. ein hochintelligenter junger Student der ­Medienwisschaften, der investigativen Journalismus erlernen wollte. Er war zuerst beeindruckt von diesem nach außen hin freundlichen und cleanen Arbeitsklima. Am dritten Tag merkte er, dass er nicht einen einzigen Abschluss zustande bekommt, wenn er gesetzeskonform vorgeht. Man müsse das den Chefs sagen, meinte er, die wüssten das sicher gar nicht. Sie haben ihm geantwortet, er solle erst mal richtig zuhören, learning by doing, und er habe doch Talent. Die Chefs in Call-Centern sagen nie: Betrüge! Sie sagen: Schau doch mal, hör doch mal, wie die anderen ihre Abschlüsse hinkriegen. Am fünften Tag hat er seinen Vertrag zurückverlangt. Doch der war angeblich in der Firmenzentrale und nicht greifbar... Schließlich hat er den Notruf der Polizei gewählt. Er hat dieses System nicht verkraftet, es ist eine Psychose bei ihm ausgebrochen. Seitdem glaubt er, die ganze Gesellschaft sei unterwandert, alles auf Betrug aufgebaut, alles ein Sektenunwesen.

Was Sie in Ihren Reportagen beschreiben und ­
was die Insider erzählen, weist ja tatsächlich Züge einer Sekte auf.


Ja, meines Erachtens findet da so eine Art ­Gehirnwäsche statt. Ich zitiere jetzt aus einem internen Schulungspapier, das eine Anleitung zum Verkauf am Telefon sein soll:
»Keine Pausen entstehen lassen, Gegen-Energie aufbauen, wir zerbröseln die Kun­den so wie die Termite das Fundament. Kein Nicht, kein Nein, kein Aber. ›Ich bräuchte ihre Bankverbindung‹ – da spürt der Kunde, ich greife in sein Portemonnaie und raube ihm 400 Euro. Wir machen das ganz unpersönlich: ›Wir nehmen jetzt die Bankdaten auf‹. Unvermeidlichkeit suggerieren. Das Tempo spielt eine große Rolle, das ist wie im Hollywood-Action-Kino: schnelle Schnitte, Bildergewitter, Verfolgungsjagden, nur ja keine Pausen entstehen lassen. Das ist wie Voodoo.«
Es braucht nicht die Mitgliedschaft in Sciento­logy, um so ein System aufzubauen. Es hat mich wirklich überrascht, aber noch mehr, dass die Angestellten sich nicht untereinander darüber verständigen. Alle vollstrecken, was ihnen da vorgegeben wird, ohne darüber zu sprechen.

Aber es ist auch erstaunlich, wie leicht es anscheinend ist, Leute am Telefon zu betrügen?

Erfahrungsgemäß wissen viele gar nicht, dass durch ein beiläufiges Ja am Telefon bereits ein rechtskräftiger Kaufvertrag zustande gekommen ist. Der Call-Agent sagt zum Beispiel: Sie bekommen etwas geschenkt, der Zufallsge­nerator hat Sie ausgewählt, an der Fünf-Millionen-Euro-SKL-Show mit Günther Jauch in München teilzunehmen. Oder: Sie können sich kostenlos an einem Gewinnspiel betei­ligen, mit neunzig Prozent Gewinnchance, wir müssen aber wissen, wohin wir den Gewinn überweisen sollen, deshalb brauchen wir Ihre Kontodaten. Andere tarnen sich als Meinungsforschungsinstitute oder behaupten, man bekäme eine Reise geschenkt. Für den­jenigen, der sich darauf einlässt, kann es die teuerste Reise seines Lebens werden. Oft sind es alte Menschen, die in die Falle tappen, einfach weil sie froh sind über Anrufe, über ­Zuspruch, dass jemand scheinbar auf ihre Probleme eingeht. Der einzige Rat, den man geben kann, ist: sofort auflegen!

Doch das reicht nicht, um dem Betrug beizu­kommen.

Nein. Die Politiker sind mit schuldig an dem Desaster, weil sie ein Gesetz ablehnen, das Verkaufsabschlüsse am Telefon untersagt. Die Verbraucherschützer in NRW fordern das ­unter anderem. Offenbar gibt es aber kein politisches Interesse, denn es werden Stellen ­geschaffen, Pseudostellen meines Erachtens, die weitgehend auf Betrug aufgebaut sind. Call-Center sind eine sogenannte Wachstumsbranche: Zehn Prozent Zuwachsrate pro Jahr, zurzeit arbeiten über 400.000 Menschen dort, in zehn Jahren – so die Erwartung der Branche – soll es eine Million sein.

Zur Person
Günter Wallraff, der am 1. Oktober dieses Jahres 65 Jahre alt wird, lebt ­in Köln und ist der bekannteste deutsche Enthüllungs­journalist. Seit den 70er Jahren hat er sich immer wieder neue Identitäten zugelegt, um verdeckt investigativ tätig sein zu können: Seine Recherche etwa bei der Bild-Zeitung (»Der Aufmacher«,1977) förderte die menschenverachtenden Praktiken des Boulevardblatts zutage, mit dem ­Wallraff bis heute »eine innige Feindschaft« pflegt. Als türki­scher Arbeiter Ali war Wallraff Anfang der 80er Jahre in verschiedenen Unternehmen wie Thyssen und Mac Donald’s beschäftigt (»Ganz unten«, 1985).

Zum Hintergrund
Seit einiger Zeit ist Günter Wallraff wieder undercover unterwegs – im Auftrag ­der Wochenzeitung Die Zeit. Seine erste ­Reportage über die betrügerischen ­Methoden und miserablen Arbeitsbedingungen in Kölner Call-Centern hat einigen Wirbel verursacht.

Gleichzeitig wurde auch sein Vorschlag, in der Ehrenfelder Moschee aus Salman Rushdies »Die Satanischen Verse« zu lesen, in den überregionalen Feuilletons diskutiert – und von vielen Seiten kritisiert. Wallraff kennt Rushdie persönlich und hat ihn eine Weile bei sich versteckt, nachdem der iranische ­Ayatollah Khomeini 1989 gegen den Schriftsteller eine Fatwa verhängte, das zum Mord an Rushdie wegen dessen angeblicher Gotteslästerung in »Die Satanischen Verse« aufforderte.


Buch
Die Biografie »Der Mann, der Günter Wallraff ist« von Jürgen Gottschlich erscheint am 27. August im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch.