Stimmengewitter
Wenn man Mühe hat einzuschlafen, kann man das Radio zwischen zwei Sendern einstellen. Was man nun hört, ist weißes Rauschen, alle hörbaren Frequenzen treten gleichzeitig und mit gleichmäßiger Intensität auf. Seine einschläfernde Wirkung liegt darin, dass es andere Geräusche schluckt und als völlig unstrukturiert und quasi bedeutungsfrei wahrgenommen wird. Stellt man sich nun vor, dass man in dieses Rauschen eintaucht, sich also der Mannigfaltigkeit der Töne aussetzt, beginnt man zu begreifen, wie der Film »Das weiße Rauschen« den Begriff versteht. Hier dient er als Metapher für die Unfähigkeit, die Vielfalt zufällig generierter Umweltreize zu filtern und zu strukturieren, d.h. zu verhindern, dass das chaotische Außen in den Kopf dringt.
Lukas sitzt im Zug. Bäume und Büsche sausen vorbei, lösen sich in kleinste Teile auf. Lukas fährt vom Sauerland nach Köln, wo er bei seiner Schwester Kati und deren Freund Jochen wohnen und studieren will. Auf der anderen Seite des Zuges sitzt ein Mädchen. Er bringt sie zum Lachen. Alles sieht viel versprechend aus. Und in Köln, da geht’s ab. Zuhause war ja nichts los. Aber schon das Einschreiben an der Uni ist ein Albtraum, das erste Date eine einzige Katastrophe. Zumindest gibt es noch Kati und Jochen, Ausflüge auf’s Land und Pilze zum Berauschen. Doch was für das Paar eine kleine Flucht auf grüner Wiese ist, löst bei Lukas etwas aus, das er nicht mehr los wir – ein gewaltiges Stimmengewitter, oder, um den Fachterminius zu verwenden, eine schizophrene Psychose.
Filme, die sich mit Geisteskrankenheiten beschäftigen, gibt es viele. Es gibt eigene Filmfestivals zu diesem Thema, wie »Rendezvous with Madness« in Toronto oder »Reel Madness« in Victoria, B.C. Selbst der Kino-Mainstream hat da einiges zu bieten. Man denke nur an »Einer flog über das Kuckucksnest« oder »Shine«, zwei Filme, die bei allen Unterschieden eines gemeinsam haben, die Konzentration auf das Schicksal der Kranken und nicht auf die Krankheit selbst. Die Geschichten berühren auf Grund ihrer Tragik: die Niederlage gegen einen grausamen institutionellen Apparat, eine abgebrochene musikalische Karriere.
»Das weisse Rauschen« rückt die Krankheit viel stärker in den Mittelpunkt, macht sie nachvollziehbar, indem die Wahrnehmungen seines Protagonisten simuliert werden. Noch bevor Lukas beginnt, Stimmen zu hören, spüren wir, welchen Stress seine Umwelt bei ihm auslöst, wie desorientiert er ist. Die mit der Handkamera gedrehten Bilder sind unruhig, das Blickfeld oft eingeschränkt. Auf einmal kommt einem irgendwer oder irgendwas ganz nahe. Häufig ändert sich die Farbe des Filmmaterials. Im Dunkeln lässt seine grobe Körnung alles undeutlich werden. Dazu kommt der Krach – der Lärm einer Bausstelle, das schleifende Geräusch einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Dann schließlich die Stimmen. Sie kommen überall her, vermischen sich zeitweise zu einem einzigen Wirrwarr, aus der sich dann immer wieder eine einzelne herauslöst, um mit verblüffender Bestimmtheit eine Gemeinheit loszuwerden.
Die filmischen Mittel legen nahe, von einem Dogma-Film zu sprechen. Regisseur Hans Weingartner lehnt dieses Label jedoch ab, erkennt aber an, dass Dogma das Drehen mit Digital Video salon- und förderungswürdig gemacht hat. Sein Bericht über die Dreharbeiten liest sich fast wie die Beschreibung eine DV-Rauschs. Was ihn so begeistert, ist die Befreiung von einer komplizierten Technik und die dadurch mögliche Konzentration auf die Geschichte und die Schauspieler. Zweifelsohne sind die Schauspieler sehr gut, ist die Geschichte packend, der Film wäre jedoch beides nicht, hätte Weingartner seine einfache Technik nicht sehr bewusst eingesetzt.
Der Film entstand als Abschlussarbeit der Kunsthochschule für Medien in Köln, wo sie u.a. von einem Spezialisten für Psychiatrie betreut wurde. Weingartner selbst studierte mehrere Jahre lang »Cognitive Science«, bevor er sein Filmstudium begann. Er recherchierte ausführlich zum Thema Schizophrenie, sprach sowohl mit Kranken als auch deren Angehörigen. Lukas’ Geschichte basiert in weiten Teilen auf den Erfahrungen einer Person, die Weingartner besonders nahe steht, und die auch Darsteller von Lukas, Daniel Brühl, kennen lernte. Die Vorbereitung war also akribisch. Umso erstaunlicher ist es, wie wenig sich das angesammelte Wissen aufdrängt.
Nur in einer Szene gibt es eine geballte Ladung Fakten, z.B. dass einer von 100 an Schizophrenie erkrankt. In einem gut gefüllten Kino sind das schon zwei.
Das weisse Rauschen D/A 00, R: Hans Weingartner, D: Daniel Brühl, Anabelle Lachatte, Patrick Joswig, 107 Min. Start: 31.1.
StadtRevue verlost 10 Soundtracks zum Film. E-Mails bis zum 15.2. an verlosung@stadtrevue.de. Stichwort: »Psilos«.