Neue Welten
In der Halle Kalk, genauer: in ihrem einen Teil, der Museumshalle, stehen Wohnwagen mit kleinen Holzverandas und Häuschen mit sorgfältig abgeblätterten Blümchentapeten eng nebeneinander, zwischen ihnen verlaufen enge Gassen. Es gibt Süßigkeitenshops und Schönheitssalons, Bars und Peepshows – und mitten drin eine Kapelle mit dem Orakel. Dort hat sich Martha Rubin materialisiert, nachdem sie jahrelang nur als Geist erschienen war. Die 1913 Verschwundene hat der kleinen Stadt in der Halle ihren Namen gegeben: Rubintown.
So lieblich, wie es auf den ersten Blick scheint, ist es in diesem Ort außerhalb von Zeit und Raum aber nicht: Rubintown wird streng vom Militär kontrolliert. Die Zuschauer müssen Schutzanzüge anziehen, weil alles verstrahlt ist. Die dreißig Schauspieler-Bewohner der Stadt sind Martha Rubins Enkel und Urenkel, und zum Zeitpunkt des Besuchs der Reporterin bauen sie ununterbrochen an ihren Häusern, die zur Wiedereröffnung des Kölner Schauspiels zu einem völlig neuen Theaterexperiment einladen. Es heißt »Die Erscheinungen der Martha Rubin«.
Dreimal wird Rubintown geöffnet sein, erst für 36 Stunden, dann für 60, dann für 84. Jeder Zuschauer kann in dieser Zeit so oft und so lange kommen, wie er will – sofern es die Bewohner zulassen. Man kann mit ihnen essen, schlafen, sich massieren lassen, einkaufen, reden, und man muss selbst entscheiden, wie tief man sich auf die Gesetze und Geschichten der Stadt einlässt. »Nur auf der Straße sollte man vielleicht nicht schlafen, denn die Patrouillen des Militärs sind hart«, sagt Arthur Köstler.
Wo verlaufen die Grenzen von Kunst und Leben? Von Realität und Fiktion? Von Theater und Kunst? Diese Fragen stehen am Anfang der Arbeit von Signa, einem Künstlerpaar, das aus der Dänin Signa Sørensen und dem Österreicher Köstler besteht. Selten dauern ihre abgründigen Installationen kürzer als hundert Stunden. Es ist das erste Mal, dass das Künstlerduo ein so großes Projekt wie die »Erscheinungen« in Deutschland auf die Beine stellt. Internationales Aufsehen erregte Signa schon 2005 in Malmö mit ihrem Projekt »Black Rose Trick«: ein Hotel, in dem sich Besucher völlig real für zehn Tage einmieten konnten. »Da ging es sehr, sehr weit mit der Interaktion«, erzählt die 32-jährige Signa. Manche Zuschauer standen tagelang im Restaurant und kochten. Und wenn man sie fragt, was sie machen, wenn es zwischen einem Besucher und einem fiktiven Rubinstädter zu sexuellen Handlungen käme, lächeln sie geheimnisvoll: »Es gibt keine Grenzen, so lange die Schauspieler in ihren Rollen bleiben.«
Nur wenige Meter entfernt entsteht eine andere Welt. Ein Fließband windet sich über die Bühne der anderen Hälfte der Halle Kalk, ein blaues »Ford«-Zeichen leuchtet. Der seit 1931 in Köln ansässige Autohersteller ist mit rund 28.000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber hier. Der amerikanische Autokönig Henry Ford hatte bizarre Hobbys. 1928 stampfte er die Kleinstadt »Fordlandia« aus dem Boden des Amazonas-Dschungels, die heute eine überwucherte Geisterstadt ist. Ford wird auf der Bühne als Puppe auftreten, die Lebenswelten seines Imperiums werden von fünf Schauspielern dargestellt.
Für ihre »Fließbandproduktion«, sie wird ebenfalls »Fordlandia« heißen, befinden sich Schnellsprech-Philosoph und Video-Schnipsler Jürgen Kuttner und Theatermacher Tom Kühnel mit den Schauspielern zum Zeitpunkt der Visite gerade auf einer intensiven theatralen Recherche: Täglich sehen sie Dokumentarfilme und interviewen ehemalige Fließbandarbeiter. Das Dokumentarische, das auf deutschen Bühnen so sehr in Mode ist, dient ihnen eher als Vorlage für eine poetische Verfremdung, die viel über politische Prozesse des 20. Jahrhunderts aussagt und gleichzeitig über halb vergessene Geschichten der Stadt Köln. »Aber wir spielen jetzt nicht den Klassenkampf nach«, sagt Kuttner.
Dennoch: Wer (außer geschichtsbewussten Linken) weiß heute noch, dass es im Niehler Ford-Werk 1973 einen großen Streik von türkischen »Gastarbeitern« gab, weil rund 500 türkische Kollegen zu spät aus ihrem Urlaub kamen und entlassen werden sollten? Auf einmal gab es, titelte Bild rassistisch, ein »Türkenproblem« bei Ford, und als diese politische Artikulation der »Gastarbeiter« nach heftigem Arbeitskampf erstickt wurde, hieß es: »Deutsche erobern ihre Fabrik zurück«.
Kuttner und Kühnel wollen auf der Folie der Stadtgeschichte aber noch andere Prozesse des 20. Jahrhunderts beleuchten: »Wie das Auto zum Beispiel die Idealbilder des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat, wenn man an James Dean und Easy Rider denkt«, sagt Kuttner. Und Kühnel fügt hinzu: »Wie sich der Begriff der Arbeitswelt verändert: Das zeigt sich ja auch bei Industriehallen wie der Kalker, die eben nicht mehr für Arbeit, sondern als Wohn- und Vergnügungsraum für die kreative Kaste genutzt werden. Das Prinzip der Fließbandarbeit setzt sich in der Produktion von Fernseh-Seifenopern trotzdem fort.«
Was auf der Bühne zu sehen sein wird, ist nicht einfach auszudrücken: Vielleicht könnte man es eine politische Verkleidungscollage mit dokumentarischer Grundlage nennen. Dass diese von Kühnel und Kuttner erfundene Theaterform scharfsinnig, tiefgründig und witzig ist, haben sie an Theatern in Basel und Berlin bereits eindrucksvoll bewiesen.
Schauspiel Köln Spielzeitauftakt
»Nibelungen«
von Friedrich Hebbel,
R: Karin Beier, Schauspielhaus,
12.(P), 17., 23., 27., 28.10.
»Die Erscheinungen der Martha Rubin«
R: Signa, UA, Museumshalle Kalk, 13. (P), 14., 19.-21., 25.-28.10.
»Fordlandia«
R: Tom Kühnel/Jürgen Kuttner, UA, Halle Kalk,
13. (P), 14., 18., 20.-22., 27., 28., 31.10.
»Heute: Raum Lumina«
Ch: Vincent Crowley, UA, Schauspielhaus,
14.(P), 18.-21., 24.10.
Uhrzeiten siehe Tageskalender der aktuellen Stadtrevue