Der ausgeliehene Kollege
Wenn Thomas am Fließband steht, fühlt er sich, als ob er dazu gehört. Jeder Handgriff sitzt, die Bewegungsabläufe kennt der 21-Jährige im Schlaf. Thomas setzt Einzelteile eines Automotors zusammen. Der Kollege neben ihm, Dieter, macht die gleiche Arbeit, die anderen am Band ebenfalls. In der Mittagspause gehen alle zusammen in die Kantine, manchmal treffen sie sich nach Dienstschluss auf ein Feierabendkölsch. Immer öfter macht Thomas auch Überstunden, freiwillig, »um zu zeigen, was ich kann«. Er ist ein Blaumann unter vielen – zumindest äußerlich.
Auf seinem Lohnzettel ist jedoch Schluss mit dem Gleichheitsprinzip. Thomas verdient im Monat rund 1050 Euro, netto. Dafür arbeitet er in einem Drei-Schicht-Betrieb 35 Stunden pro Woche. Frühdienst, Mittelschicht und Nachteinsätze wechseln bei ihm häufig. Sein Kollege Dieter verdient netto fast 500 Euro mehr – für die gleiche Tätigkeit. »Ich fühle mich wie ein Arbeiter zweiter Klasse. Das ist moderner Sklavenhandel«, sagt der Kölner, der eigentlich gar nicht Thomas heißt. Er will unerkannt bleiben, denn er hat Angst um seinen Job. Seit neun Monaten arbeitet er bei einer Zeitarbeitsfirma und ist an einen Großkonzern in Köln ausgeliehen. Sein Gehalt bezahlt der Personaldienstleister. Dieter hat mehr Glück gehabt, er gehört zur Stammbelegschaft des Konzerns.
Thomas ist einer von 12.000 Leiharbeitern in Köln. Die Branche boomt wie keine andere. Jede siebte neu besetzte Stelle in Köln entstand laut Arbeitsagentur im vergangenen Jahr bei Personaldienstleistern, laut dem Arbeitgeberzusammenschluss Bundesverband Zeitarbeit sogar jede zweite. Deutschlandweit werden aktuell 600.000 Leiharbeiter beschäftigt, doppelt so viele wie vor fünf Jahren. Experten erwarten, dass spätestens bis 2010 die Millionengrenze überschritten wird. Parallel dazu schnellt auch die Zahl der Zeitarbeitsfirmen in die Höhe: Nach Angaben des Bundesverbandes Zeitarbeit gibt es republikweit 9000 Niederlassungen, allein in Köln sind es rund 300.
Ein Strohhalm ist besser als Hartz IV
Aus Überzeugung heuern Menschen wie Thomas nicht als Leiharbeitnehmer an. Nach seiner Ausbildung als Schlosser hat er keine Anstellung in seinem Beruf gefunden, alle Bewerbungen waren erfolglos. »Ich war total panisch. Die Vorstellung arbeitslos zu sein, war einfach nur Horror«, sagt Thomas, der zum Blaumann Baseballkappe und Turnschuhe trägt. Im Internet ist er, eigentlich zufällig, auf eine Stellenanzeige einer Zeitarbeitsfirma gestoßen. »Mein Wunschtraum war das natürlich nicht.« Aber ein Strohhalm sei immerhin besser als Hartz IV. Zufrieden ist er nach neun Monaten als »Springer« nicht, häufige Ortswechsel, anstrengende Schichtdienste, niedrige Löhne und die ständige Ungewissheit vor der Zukunft zehren an seinen Nerven: »Ich gebe ja schon was ich kann, aber ich kann jederzeit weg vom Fenster sein.« Die Personaldienstleister bekommen laut Bundesverband Zeitarbeit von ihren Kunden mindestens das Doppelte des Gehalts, das sie ihren Mitarbeitern monatlich zahlen.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Köln, Wolfgang Uellenberg-van Dawen, findet diese Arbeitsbedingungen »skandalös«: »Es ist reine Ausbeutung, für die gleiche Arbeit geringer bezahlt zu werden. Die Menschen fühlen sich in ihrer Leistung nicht mehr Wert geschätzt. Das hat mit Würde zu tun.« Laut DGB-Schätzungen braucht jeder achte Vollzeit-Leiharbeiter wegen seines geringen Gehalts Unterstützung durch Hartz IV – in keiner anderen Branche sei dieser Anteil ähnlich hoch. »Eine solche Arbeit macht arm«, stellt Uellenberg-van Dawen fest. Trotz des gegenwärtigen wirtschaftlichen Aufschwungs breitet sich der Niedriglohnsektor auf dem Arbeitsmarkt immer weiter aus. »Die Menschen fühlen sich hintergangen, die Konjunktur läuft an ihnen vorbei.«
Früher waren die Zeitarbeiter Feuerwehrmänner für Notfälle
Vorangetrieben wurde der Boom der Branche durch die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung. Das erste der Hartz-Gesetze erlaubt seit 2004, Leiharbeiter unbefristet im selben Betrieb zu beschäftigen. Zuvor lag die Höchstgrenze bei zwei Jahren, bis 2002 bei einem Jahr, ursprünglich sogar bei drei Monaten. Uellenberg-van Dawen: »Früher waren die Zeitkräfte quasi Feuerwehrmänner, die in Notfällen einsprangen.« Mittlerweile wird dieses arbeitsmarktpolitische Instrument oftmals als Kostenbremse missbraucht. »Es gibt Betriebe, da wird die Stammbelegschaft systematisch ausgewechselt«, erklärt der DGB-Chef. Auch in Köln seien Unternehmen, in denen dreißig Prozent der Belegschaft aus Leiharbeitern bestehen, keine Seltenheit. »Wir wissen sogar von Quoten bis fünfzig Prozent.« Erste Studien untermauern diese Beobachtung: »In rund einem Viertel der Betriebe, die Leiharbeit nutzen, fand ein Rückgang regulärer Beschäftigung statt«, zitiert Elke Jahn vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus einer Untersuchung.
Um diesen Entwicklungen gegenzusteuern, kämpfen die Gewerkschaften, wie kürzlich auf dem Verdi-Bundeskongress, immer schärfer für eine Regulierung der Zeitarbeit. Sie fordern, dass Leiharbeiter den gleichen Lohn wie Festangestellte erhalten und die Anzahl der Zeitarbeitnehmer pro Betrieb begrenzt wird. »In all unseren Nachbarstaaten gilt das Prinzip ›Equal Pay‹ «, erklärt der Kölner DGB-Vorsitzende. Die EU-Kommission schlägt mit ihrer Initiative, den Leiharbeitnehmern nach sechs Wochen gleiches Gehalt und Sozialleistungen zu geben, ähnliche Wege ein.
Eine solche gesetzliche Regelung wäre eine Neuerung in Deutschland. Bislang hat der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf »Equal Pay«, wenn das Zeitarbeitsunternehmen mit seinem Kunden einen Tarifvertrag vereinbart hat. Zwar würden, so Uellenberg-van Dawen, nach DGB-Tarifvertrag für Zeitarbeit mindestens 7,20 Euro bezahlt, doch es gebe auch Haustarife, die bei fünf Euro liegen. Zudem würden Unternehmen hauseigene Leiharbeitsfirmen gründen, um bestehende Tarifbindungen auszuhebeln. »Da wird der Arbeiter gekündigt, bei der Tochterfirma zu Dumpinglöhnen eingestellt und auf seinen alten Arbeitsplatz gesetzt. Das ist das Allerletzte.«
Die erhoffte Übernahme bekommen nur die wenigsten
Keine Probleme mit dem Kündigungsschutz, günstige Arbeitskosten und die Möglichkeit, flexibel auf Nachfrage reagieren zu können, machen das Leihprinzip für die Unternehmen attraktiv. »Der Weltmarkt erfordert schnelles Reagieren«, betont Elke Jahn vom IAB. Uellenberg-van Dawen sieht dies anders: »Den Preis dafür zahlen die Arbeiter. Das unternehmerische Risiko wird auf sie abgewälzt.«
Befürworter der Branche sagen, dass Leiharbeit auch ein Sprungbrett sein kann. Laut einer IAB-Studie waren im Jahr 2003 43 Prozent der in der Branche Beschäftigten zuvor arbeitslos. Die erhoffte Übernahme in eine Festanstellung bekommen allerdings nur die wenigsten. Den Zeitarbeitsfirmen zufolge kommt der so genannte »Klebeeffekt« bei dreißig Prozent aller Leiharbeiter zum Tragen. Wolfgang Uellenberg-van Dawen hält diese Quote für zweifelhaft. Der DGB sei bei einer Befragung nur auf höchstens 15 Prozent gekommen. »Das ist ein Leben in der Warteschleife. Die Menschen können ihre Zukunft nicht planen. Viele werden seit Jahren hingehalten.«
Auch Thomas hat bei seinem momentanen Auftraggeber mehrfach um eine Festanstellung gebeten. Bisher wurde er jedes Mal vertröstet, dennoch zeigt er sich zuversichtlich. »Ich stehe erst am Anfang, ich habe konkrete Ziele«, erklärt er resolut. Seit fast fünf Jahren hat er eine feste Freundin. »Wir wünschen uns Kinder«, verrät er. Mit seinem derzeitigen Einkommen kann sich Thomas eine Familie nicht leisten, auch wenn er mit dem DGB-Tarifvertrag noch ein klein wenig besser dran ist als andere Leihkräfte. »Ich werde weiterhin Vollgas geben. Ich bekomme bestimmt eine Übernahme. Irgendwann.«