Rumänischer Realismus
Rumänien hat sich in den letzten Jahren zu einem der interessantesten europäischen Filmländer entwickelt. Das deutsche Publikum konnte sich davon allerdings bislang keinen Eindruck verschaffen. Weder fand Christi Puius »The Death of Mr. Lazarescu« noch Corneliu Porumboius »12:08 East of Bucharest« in Deutschland einen Verleiher. Unterstützt durch den Gewinn der Goldenen Palme dieses Jahr in Cannes, kommt nun wenigstens Cristian Mungiús Abtreibungsdrama »4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage« auch in die hiesigen Kinos. Gemeinsam ist dem neuen rumänischen Film ein Hang zum sozialen Realismus, der sich auf das Notwendigste beschränkt und auf leicht ironische Weise die Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit bewahrt.
»4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage« spielt in den letzten Jahren der Ceaucescu-Herrschaft, in der Abtreibung generell verboten war. Zwei Studentinnen bereiten sich in ihrem Wohnheim auf einen Ausflug vor, ohne dass der Zuschauer erfahren würde, was der Anlass dafür ist. Während die eine ihren Koffer packt, geht die andere in den benachbarten Zimmern ein und aus, um Dinge des alltäglichen Lebens zu besorgen. Das ganze Haus ist organisiert wie ein Bienenstock des sozialistischen Tauschhandels. Schon bald erhärtet sich der Verdacht, dass man in dieser Gesellschaft nichts geschenkt bekommt. Otilia (Anamaria Marinca) mietet unter einem Vorwand ein Hotelzimmer an. Später holt sie einen Mann am verabredeten Treffpunkt ab, der ihrer schwangeren Freundin Gabita (Laura Vasiliu) bei der Abtreibung helfen soll. Als sich zeigt, welche Art der Bezahlung der Arzt im Sinn hat, wird die Freundschaft allerdings auf eine härtere Probe gestellt.
Die Handlung von »4 Monate, 3 Woche und 2 Tage« entwickelt sich im Laufe eines einzigen Tages. Stets bleibt die Kamera auf Distanz, meistens rückt sie die Figuren aus gleichbleibender Perspektive und in langen Einstellungen ins Bild. Auf die Spitze getrieben wird diese Diskretion ausgerechnet in einer klassischen Suspense-Szene: Während Gabita im Hotelzimmer die künstlich herbeigeführte Fehlgeburt erwartet, muss ihre Freundin zu einer Geburtstagsfeier in familiärer Runde, bei der sie wie auf heißen Kohlen sitzt. Die am anderen Ende der Tafel aufgestellte Kamera verändert nicht für eine Sekunde ihren Standort und versetzt den Zuschauer für die Dauer mehrerer Minuten in einen Theatersaal. Unter dem Tisch tickt die Bombe des Manierismus, doch Mungiú entschärft sie gerade noch zur rechten Zeit.
Mitten unter den Figuren
Schon lange hat sich kein Filmregisseur mehr derart gekonnt der Bühnenrealität genähert. In langen Proben ließ Mungiú den Text verfeinern, danach entwickelte er mit dem brillanten Kameramann Oleg Mutu ein Konzept, das den Schauspielern möglichst viele Freiheiten gibt und dabei trotzdem genuin filmisch erscheint. »Wir haben jede Szene in einer einzigen Einstellung gedreht«, sagte Mungiú in Cannes, »und den Darstellern erlaubt, den Raum hinter der Kamera zu nutzen. Wir beschlossen, die Gesichter nicht nahe heranzuholen und haben uns schließlich überlegt, welchen Eindruck es macht, wenn wir die Figuren zwar hören, aber nicht sehen können.« Der Effekt ist überwältigend: Der Zuschauer ist mitten unter den Figuren, und diese wirken gleichzeitig vor allzu aufdringlichen Blicken geschützt.
Obwohl »4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage« die Geschichte einer Freundschaft erzählt, bietet er nur wenig Trost. Mit grimmiger Konsequenz treibt Cristian Mungiú die Handlung voran und erspart dem Zuschauer auch nicht den Anblick des toten Embryos. »Spült ihn nicht ins Klo und begrabt ihn nicht«, hatte der schrecklich pragmatische Arzt die beiden Frauen gewarnt, denn auf diese Weise fiele das Verbrechen garantiert auf sie zurück. Also begibt sich Otilia am Ende der Nacht auf eine letzte Odyssee: Sie schweift mit dem winzigen Leichnam durch die Straßen und sucht verzweifelt nach einer letzten Ruhestätte, die nicht zuviel verrät und sich mit ihrem Gewissen noch vereinbaren lässt.
4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage
(4 luni, 3 saptamini si 2 zile) RU 07,
R: Cristian Mungiú, D: Anamaria Marinca, Laura Vasiliu, Vladimir Ivanov, 113 Min. Start: 22.11.