Reiches Land, arme Kinder
Schweigen. Zerbrechlich sitzt Jenny auf dem abgewetzten Sofa im Wohnzimmer. Das schmale Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz und den blauen Augen trägt Jogginghose, dazu ein ausgewaschenes XL-Shirt und Turnschuhe. Minutenlang starrt die 13-Jährige, die eigentlich einen anderen Namen hat, auf den grauen Linoleumfußboden und krault dabei Minky, ihre schwarze Katze mit den weißen Flecken. »Reden fällt uns manchmal schwer«, sagt ihre 37-jährige Mutter, nennen wir sie Edith Baumeister, die neben ihr sitzt. Plötzlich aber sprudeln die Worte nur so aus Jenny heraus – ohne Betonung, ohne Pause, ohne Atemholen. »Die anderen Mädchen haben total teure Ohrringe. Die kosten zwanzig Euro.« Ihr Blick wandert nach draußen. Dort spielen Kinder im Schatten grauer Mietskasernen. »Und dann kenne ich welche, die machen sogar jedes Jahr Geburtstagspartys. Und kriegen Weihnachtsgeschenke. Große, viele Geschenke«, sagt Jenny und springt vom Sofa auf. Wieder Schweigen.
Jenny lebt gemeinsam mit ihrer Mutter, drei Geschwistern, zwei Katzen, zwei Wellensittichen und einem Meerschweinchen in einer Dreizimmerwohnung in Vingst, einem sozialen Brennpunkt der Stadt. Ähnlich wie in anderen Großstadtvierteln wohnt die Armut hier hinter Fassaden mit Satellitenschüsseln. Hier leben Familien, die noch niemals einen Nordsee-Urlaub geplant haben. Frauen, die viele Kinder von vielen verschiedenen Männern haben. Jugendliche, die von den neuesten Nike- und Nokia-Produkten so weit entfernt sind wie von einem Besuch in der Musikschule. Mädchen, die mit zwölf die Pille nehmen oder als Kinder Mütter werden.
Im reichen Deutschland wächst die Kinderarmut. Jedes vierte Kind in Köln wird am Rande des Existenzminimums groß, in Höhenberg-Vingst sogar jedes zweite. Bundesweit leben laut Arbeitsagentur 1,9 Millionen Kinder in Hartz-IV-Haushalten – also jedes sechste Kind. Christoph Butterwegge, Politikprofessor an der Kölner Universität, spricht sogar von drei Millionen Kindern. Bei seiner Schätzung rechnet er die Dunkelziffer mit ein – Kinder, die in Flüchtlingsfamilien leben, keinen deutschen Pass haben oder deren Eltern aus Scham oder Unwissenheit keine Unterstützung beantragen: »Und die sind sogar noch schlechter dran.«
Von der Glanzwelt ausgeschlossen
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich die Erscheinungsformen der Armut verändert. Mittlerweile sind Kinder die Hauptbetroffenen, Butterwegge und andere Experten sprechen von einer »Infantilisierung der Armut« – noch 1980 waren Rentnerinnen die größte Gruppe der einkommensschwachen Bevölkerung. »Seit Hartz IV hat sich die Zahl der armen Kinder verdoppelt«, sagt Butterwegge. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe fielen für die Betroffenen zahlreiche Sonderbeihilfen, etwa für Kleidung, defekte Haushaltsgeräte oder Schulmaterialien, weg.
Die Armutsdebatte in Deutschland stützt sich im Wesentlichen auf zwei Definitionen: Laut dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2005) gilt als armutsgefährdet, wer in einer Familie aufwächst, die mit weniger als sechzig Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen muss. Für Einzelpersonen waren das im Jahr 2004 856 Euro. Als offizielle Messlatte der Politik aber dient der Hartz-IV-Regelsatz. »Anders als in der Dritten Welt geht es bei uns nicht ums Überleben«, erklärt Butterwegge. Aber dennoch sei Kinderarmut in Köln für die Betroffenen nicht weniger schlimm als in Kalkutta: »Armut in einem reichen Land kann viel deprimierender sein. Die Kinder sehen die Glanzwelt, sind aber ausgeschlossen.«
Vom aktuellen wirtschaftlichen Aufschwung spüren Kinder wie Jenny rein gar nichts. 208 Euro Sozialgeld bekommt Jennys Mutter pro Monat für jedes Kind unter 14 Jahren, für Jugendliche gibt’s 278 Euro. Edith Baumeister ist arbeitslos und bekommt die Hartz-IV-Pauschale von 347 Euro monatlich, plus einen Zuschlag für Alleinerziehende von 167 Euro – macht für die fünfköpfige Familie 1346 Euro. 6,80 Euro hat sie täglich für jedes ihrer Kinder zur Verfügung und muss davon Essen, Kleidung oder Schulbücher bezahlen. »Wir sind oft Mitte des Monats blank. Ein Zoobesuch ist nicht drin. Aber wir sind ja bescheiden«, sagt sie und Jenny nickt tapfer. Vor einigen Monaten hat sich die 37-Jährige von ihrem Noch-Ehemann getrennt, weil er »das Konto leergeräumt und im Internet alles bestellt hat, was ging«. 30.000 Euro Schulden habe er ihr hinterlassen – die muss sie jetzt abbezahlen. Nachts schläft Edith Baumeister auf dem Sofa, die vier Kinder teilen sich zwei rund 14 Quadratmeter große Zimmer, in denen sich allerlei Krempel und Kleidung stapelt. Der Schrank ist kaputt, Platz für Schreibtische gibt es nicht. »Nicht ideal, aber es geht«, sagt sie. Auf ihre Küche ist sie allerdings stolz: »Am Tisch können wir alle gemeinsam sitzen. Und im Kühlschrank ist Essen. Meistens.«
In der Kalkulation des Regelsatzes für Kinder hat der Gesetzgeber 2,57 Euro täglich für Lebensmittel vorgesehen. »Viel zu wenig«, findet Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. »Ein Vorschulkind braucht mindestens drei Euro, ein Jugendlicher sechs Euro. Selbst wenn sich die Familien gesund ernähren wollen, können sie das gar nicht schaffen. Das ist bitter.« Häufige Folgen einer mangelhaften Ernährung seien Entwicklungsstörungen, Übergewicht oder chronische Krankheiten. Laut dem Bundesverband für Kinder- und Jugendärzte bleiben auch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und ausreichender Impfschutz häufig auf der Strecke.
»Diese Kinder haben
keine Chance.
Ihr Fahrstuhl geht steil
nach unten.«
Oft mangelt es nicht am Geld allein. Gerda Holz, die am Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik zur Kinderarmut forscht, sieht vor allem die kulturelle und soziale Entwicklung der Kinder bedroht: »Sie werden isoliert. Das ist für sie das Allerschlimmste.« Wenn laut Pauschale für Bücher und Zeitschriften 3,28 Euro im Monat vorgesehen sind, ist eine ausreichende Förderung nahezu unmöglich. »Diese Kinder haben von Anfang an keine Chance im Leben. Ihr Fahrstuhl geht steil nach unten«, macht Holz deutlich. So verließen im Jahr 2005 17,6 Prozent der einkommensarmen Kinder laut Sozialbericht NRW 2007 die Schule ohne Abschluss – bei Kindern, die niemals am Existenzminimum lebten, liegt die Quote bei 3,6 Prozent. Spätestens seit der Pisa-Studie ist es amtlich, dass Bildungsarmut vererbt wird – mittlerweile gibt es Sozialhilfeempfänger in der dritten Generation. »Nur durch Bildung können wir diesen Teufelskreis aufbrechen«, so Holz.
Auch Jenny hat Angst vor der Spirale aus nicht bestandenem Abschluss, Arbeitslosigkeit und einem Leben am Rand. »Mal schauen, ob ich’s schaffe«, sagt die Hauptschülerin. Wenn ihre Mutter sie nach der Zukunft fragt, gibt’s nur ein Schulterzucken. »Tierpflegerin«, antwortet ihre jüngere Schwester mit den braunen Haaren und den dunklen Augen. Sie haben unterschiedliche Väter, auch der fünfjährige Bruder meint einen anderen Mann, wenn er von »Papa« spricht. Allein mit höheren Hartz-IV-Sätzen sei solchen Familien nicht geholfen, so Holz. »Aber mehr Geld ist der erste Schritt«, sagt sie und reiht sich damit in die Forderungen zahlreicher Wohlfahrtsverbände ein. Parallel dazu müssten aber auch Strukturänderungen, wie der Ausbau von Ganztagsbetreuungsplätzen, die Förderung frühkindlicher Bildung oder kostenlose Mittagsverpflegung an Schulen, angepackt werden. »Die Situation ist dramatisch«, erklärt Holz. Auch die Politik scheint dies erkannt zu haben. Mit der Einführung eines sozialen Frühwarnsystems und Projekten wie »Kein Kind ohne Mahlzeit« werden in Nordrhein-Westfalen erste Schritte getan. »Das ist gut, reicht aber nicht aus«, mahnt Holz.
Edith Baumeister erhebt sich vom Sofa und geht in die Küche. »Heute gibt’s Nudeln mit Soße«, erzählt sie. Gerade hat sie sich von der Kirchengemeinde Höhenberg-Vingst eine große Tüte mit Lebensmitteln abgeholt. Brot, Gemüse, Obst, Nudeln, Kaffee und Salami. »Ohne Pfarrer Meurer wären wir verloren«, betont Edith Baumeister. Währenddessen krault Jenny noch immer ihre Katze Minky. »Ich schmuse so gerne mit ihr. Außerdem ist sie schon wieder schwanger.«