Ordinäre Biester

Zwei Arten, den Neo­liberalismus zu beschreiben:

Bücher von Naomi Klein und David Harvey

Beide kommen aus einer bestimmten Ecke, bewegen sich in die jeweils entgegengesetzte Richtung – und treffen sich in der Mitte. Aber dennoch unterscheiden sich David Harveys »Kleine Geschichte des Neoliberalismus« und Naomis Kleins »Die SchockTherapie« grundsätzlich.

Harveys Ecke ist die akademische Linke. Weil die Frei­heit der Lehre in den USA hoch geschätzt ist, haben auch bürgerliche Wissenschaftler kein Problem anzuerkennen, dass auf dem Gebiet der Urbanismus-Forschung der Marxismus federführend ist. Der 72-jährige Harvey, Professor in New York, ist einer der Begründer der marxistischen Urbanistik. Harvey, der für gewöhnlich dicke, schwere Bücher schreibt (»The Urbanization of Capital«), hat etwas gewagt und mit »Kleine Geschichte des Neoliberalismus« sein erstes populär orientiertes Buch geschrieben. Naomi Klein dagegen ist die Szene-Ikone der No-Globals, eine immer noch recht junge Aktivistin (37 Jahre), die seit ihrem Bestseller »No Logo« (2000) vor allem journalistisch gearbeitet hat. »Die Schock-Therapie« ist ihr erstes wissenschaftliches Werk.

Harvey möchte zeigen, wie wenig konsistent das Phänomen ist, das man Neoliberalismus nennt: Wer den Neoliberalismus isoliert betrachtet und nicht eingebettet in die größere Geschichte des Kapitalismus und der Klassenkämpfe, verfehlt den Gegenstand. Wenn man einen Kern der Ideologie ausmachen will, dann diesen: Neoliberalismus ist die Kombination des politischen Liberalismus mit der ökonomischen Neoklassik. Die Ende des 19. Jahr­hunderts aufgekommene Strö­mung der Neoklassiker will die Ökonomie rein aus Marktregeln erklären. In Abgrenzung zur Klassik, für die die spezifische Regelung der Produktion im Vordergrund stand und sich das Marktgeschehen daraus erst ableitet. Neoliberalismus heißt also: Nur in einer Gesellschaft, in der sich die Individuen ohne staatlich-politische Reglementierungen im Marktgeschehen entfalten können, ist man wirklich frei.

Über diesen Minimalkonsens hinaus wurden die neoliberalen Theoretiker sich nie einig, und auch in der Realität hat es keine Gesellschaft gegeben, die durchgehend neoliberal funktioniert hat. Harvey meint, dass es auch gar nicht auf die reine Lehre ankommt – sie erwies sich als vorzügliches Instrument, das Regierungsadministrationen und Unternehmerverbände handhaben konnten, um in den 70er Jahren einen in die Krise geratenen Kapitalismus (oder, wie in China, einen stagnierenden Staatssozialismus) wieder flott zu machen.

Ein Instrument! So versteht auch Naomi Klein den Neo­liberalismus: Er ist dazu da, Katastrophen zu inszenieren. Ihre zentrale These lautet: Je größer die Katastrophe, die einer Gesellschaft widerfährt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Menschen danach jede Restrukturierung ihres Lebensraumes auf neo­liberale Weise hinnehmen. Die Entfremdung der Menschen von ihrer Lebenswelt wird auf kriegerische, ökologische, monetäre oder politische Weise erzwungen, um ihnen um so gründlicher die Bedingungen des unwiderstehlichen Kapitalismus aufzuzwingen. Genau das ist die »Die Schock-Strategie«.

Klein verarbeitet viel Stoff sehr anschaulich: Sie spannt den Bogen von Pinochets Zusammenarbeit mit dem neoliberalen Chefdenker Milton Friedman bis zum Wiederaufbau New Orleans’ auf Kosten der Flutopfer. Aber der Faktenreichtum kaschiert nicht, dass ihre zentrale These dünn ist. Sie wird immer skurriler, je mehr Material sie ausbreitet. Die Konterrevolutionen seit 1973 haben wir also vor allem Milton Friedman und einem Netzwerk marktradikaler Thinktanks zu verdanken? Die Brutalität des Kapitalismus wird an eine andere Instanz delegiert: Seine Dynamik ist Ergebnis einer verschwörerischen Politik.

Harvey konstatiert auch Formen der Verschwörung – aber allenfalls als sekundäres Phänomen. Was das Kapital antreibt, sind die eigenen Gesetze der Konkurrenz, nicht der antikommunistische Wahn eines Milton Friedmans. Das Erfolgsrezept des Neoliberalismus ist nicht der Schock, sondern sein Freiheitsversprechen. Frauenrechte, Antirassismus, Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, offene Familienplanung, Religionstoleranz – das ist dem Neoliberalismus nicht fremd. Und geht in seiner Praxis einher mit einer gnadenlosen Zersetzung von gewerkschaftlicher Macht und Arbeiterrechten.

Klein will die große Erzählung, alles fügt sich zu einem Puzzle. Und keine Frage – das Buch hält über weite Strecken die Spannung. Aber auch auf 700 Seiten ausgebreitete Fakten können die dünne These einer Verschwörung »gegen das Volk« nicht aufmotzen. Am Ende ächzt die Redun­danzmaschine.

Harvey dagegen zeigt die Lücken und Zufälligkeiten. Und das Profane: Neoliberalismus in der Praxis heißt schlicht Klassenkampf von oben. In seiner Praxis hebt sich das Liberale auf. In ihrer Konsequenz – nicht in ihrem Anspruch! – ist diese Praxis gar nicht so weit vom Faschismus entfernt. Das klingt reißerisch, aber Harvey erzählt es auf gemütlich-betuliche Art. Vielleicht hat er sich auch ein wenig gelangweilt: Denn die Neoliberalen sind keine brillanten Biester, sondern ordinäre Apologeten. In der Theorie: belanglos. In der Praxis: über­legen.
Felix Klopotek

David Harvey:
Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Übersetzt von Niels Kadritzke, Rotpunkt Verlag, Zürich 2007, 279 S., 24 €
Naomi Klein:
Die Schock-Therapie. Der Aufstieg des Katastrophen-­Kapitalismus, übersetzt von Hartmut Schickert, Michael Bischoff und Karl Heinz Siber, S. Fischer Verlag,
Frankfurt/M 2007, 763 S., 22,90 €