Keine Antworten, mehr Fragen!
Die Sirenen heulen. Die Dub-Basslines zerren. Eine markante Stimme brüllt: »Rise Again!« Alles klar: Mark Stewart ist am Start. Mit The Pop Group kreuzte Stewart im Bristol der späten 70er Jahre Punk mit Dub, schrägem Funk und radikalen Parolen. Er prägte maßgeblich jene Ära, die heute unter dem Schlagwort »Post Punk« so en vogue ist. Von Industrial-Bands bis zu TripHoppern berufen sich zahllose Musiker auf Stewart. Nach zwölf Jahren hat er jetzt, wie schon zuvor mit den ehemaligen Musikern der Sugar Hill Gang (alias The Maffia) und dem Dub-Avantgardisten Adrian Sherwood, sein sechstes Soloalbum eingespielt: »Edit«.
StadtRevue: Herr Stewart, Sie bezeichnen Zorn als ihren täglichen Antrieb. Worüber haben Sie sich heute schon aufgeregt?
Mark Stewart: Genau, »anger is an energy«, wie Johnny Rotten gesagt hat. Also: Burma! Ich hatte gerade Kontakt mit einem Freund, der in Burma mit der Opposition kämpft. Das regt mich auf. Ein anderer Freund arbeitet in Südamerika mit Protestgruppen der indigenen Bevölkerung. Eigentlich könnte ich Millionen von Dingen nennen, die mich wütend machen. Die Welt ist klein. Auf CNN hat letztens ein konservativer Politiker behauptet, die Globalisierung hätte die Grenzen überwunden. Aber ich denke: Musik hat die Grenzen überwunden!
Ihre neue Platte ist an verschiedensten Orten rund um den Globus entstanden.
Ja, es ist verrückt. So wurde ein Hiphop-Rhythmus in New York aufgenommen, in Wien wurden Industrial-Gitarren darüber gespielt, dann machten wir in England Raggae-Gesang dazu, nahmen alles mit nach Berlin, um es in Noise zu ertränken und wieder zu zerschnipseln – und alles, was am Ende übrig geblieben ist, war: Bruum! Daraus entstand dann ein neues Stück.
Hat es deshalb über zehn Jahre gedauert, bis Sie wieder ein neues Album veröffentlichen?
Vor drei Jahren hatte ich ein Album fertig. Dann trat das Label Soul Jazz an mich heran und wollte eine Compilation meiner Sachen herausbringen. Ich habe die Stücke dafür selbst ausgesucht, wollte aber auch neue Songs dabei haben und habe drei Stücke aus dem geplanten Album genommen. Da gab es dann eine Lücke, das Konzept hat sich verändert. Daher habe ich es jetzt »Edit« genannt, denn ich kann es immer wieder verändern.
In Kürze wird es einen Film über Ihr Leben geben.
Die englische Presse wird große Überblicksgeschichten machen, wenn der Film anläuft. Die machen mich zu einem Strippenzieher. Aber ich sehe das gar nicht so. Ich bin selbst beeinflusst von Reggae oder verschrobenem Jazz und sauge das wie ein Vampir für meine eigene Musik aus. Und andere saugen wiederum mein Zeug aus, so läuft das eben. Aber es gibt sonst niemanden, der so viele eigenartige Verbindungen hat: von Alec Empire zu Biz Markie, von Jamaika nach Brasilien oder Australien. Nick Caves erste Band, die Boys Next Door, hat mit Pop-Group-Songs geprobt und daraus ihre Ideen gewonnen. Es ist bizarr!
Es ist jetzt dreißig Jahre her, seit Sie mit The Pop Group begonnen haben ...
Ah, setzt mich in einen Rollstuhl! Nein, löschen Sie diesen Satz! Das war erst gestern. Ich bin jetzt eine andere Person. Sehen Sie hier? Schönheitchirurgie! Aber ich bin immer noch Punk. Die Idee und die Arroganz von Punk sind nach wie vor sehr wichtig.
Sie haben bereits mit 16, 17 Jahren begonnen, Musik mit radikalen Inhalten zu verknüpfen. Haben Sie später je an ihren Idealen gezweifelt?
Ich mag Zweifel. Ich zweifle ständig an meinen Idealen. Es ist ein endloser Prozess der Selbstbefragung. Keine Antworten, mehr Fragen! Die Leute mythologisieren Post-Punk und stellen Freunde von mir und Dinge aus dieser Zeit ins Museum. Sogar über Rave reden sie, als wäre das Geschichte. Tut mir leid, das zu sagen, aber ich sehe mich selbst gar nicht als Musiker. Und ich habe mich nicht verändert, seit ich 14 war. Ich bin immer noch dieselbe Person, mache immer noch dieselben Scheißwitze.
Auf dem Cover Ihres neuen Albums posieren Sie mit Patronengurt und Peace-Zeichen um den Hals. Wie militant kann Musik im heutigen Popzirkus noch sein?
Auf die Frage habe ich schon gewartet. Alles kann militant sein. Es gibt militanten Reggae, militante Kunst, Militanz in Burma. Ich trenne nicht zwischen Politik, Privatem, Pop, Musik. Ich bin so furchtlos wie eh und je. Ich weiß, woran ich glaube, wofür ich stehe und was ich auszudrücken versuche. Aber mit diesem Patronengürtel verarsche ich mich ja selbst, genauso wie das Bild, das die Leute von mir haben. Ich bin ein ganz normaler Typ und würde im Pub über genau dieselben Dinge sprechen wie in meiner Musik. Wenn ich mich für Monstertrucks interessieren würde, würde ich eben über Monstertrucks singen. Ich denke nicht, dass ich mehr Platten verkaufe, weil ich über Massenmord spreche. Das ist kein besonders gutes Marketingkonzept. Aber ich bin mir der Widersprüche rund um so ein militantes Image voll bewusst.
Sie sagten eben, dass Ihnen Zweifel wichtig sind.
Ich mag es, mich selbst in Frage zu stellen und mit Gedanken, die ich vor Jahren hatte, aufzuräumen. Ich finde Nihilismus konstruktiv! Aber ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich kann machen, was ich will. Ich finde, dass ich selbst zur Genüge analysiere, was ich denke. Ich maße mir auch nicht an, im Recht zu sein. Ich predige nicht! Ich fühle mich eher wie jemand mit einem Notizblock, der notiert, was für ihn interessant ist und welche Emotionen das in ihm auslöst. Eigentlich mache ich Liebeslieder, Liebeslieder für den ganzen Planeten.
Tonträger: Mark Stewart »Edit«
(Crippled Dick Hot Wax! / MDM),
erscheint am 31.3.
Konzert: Mo 7.4., Gebäude 9, 21 Uhr
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