Zwischen Milli Vanilli und Stockhausen
Helmut Zerlett bestellt ein Maguro und eine vegetarische Sushi-Platte, dazu nimmt er Grünen Tee. Dass er in einem japanischen Restaurant auf der Friesenstraße sitzt und Sushi isst, hat mit Musik zu tun. So wie eigentlich alles im Leben Helmut Zerletts mit Musik zu tun hat. Es war Al Corley, dessen Album »Riot of Colour« der bis dahin wenig fischbegeisterte Zerlett 1986 in New York produzierte, der ihn allabendlich nach getaner Arbeit nötigte, mit ihm in eine Sushi-Bar zu gehen. Bereits nach kurzer Zeit war Zerlett konvertiert und wurde zu einem begeisterten Sushi-Esser. Dass der Musiker nach dem Gespräch gesättigt und gut gelaunt mit seinem Porsche 911 Turbo in Irisblaumetallic zu seinem Arbeitsplatz ins Studio 449 zur Aufzeichnung der Harald-Schmidt-Show fährt, auch das hat mit seiner Arbeit als Musiker zu tun, doch dazu später.
Showalltag und Notensuche
Zunächst beginnt im schmucklosen Gewerbegebiet in Köln-Mülheim ein Arbeitstag wie drei weitere in der Woche. Dienstags bis freitags fährt Zerlett gegen Mittag Richtung Studio, und während er anrollt, hat er noch keine Ahnung, was er mit seinen sechs Musikern am Abend spielen oder besser: anspielen wird. »Ich schaue mir dann als Erstes die Sendeabläufe an, unterhalte mich mit der Redaktion, erkundige mich nach den Gästen der Show, ob man die vielleicht einbeziehen kann«, erläutert Zerlett seine Arbeit als Musical Director der Schmidt-Show, »dann stelle ich die Auswahl der Stücke zusammen.« Am Abend kommt Helge Schneider, den kann man mit einbeziehen.
Dass er in der Sendung am Abend den Midnight-Oil-Hit »Beds Are Burning« zitieren wird, entscheidet er erst, als er im Ablaufplan sieht, dass Schmidt beim Stand up ein paar Gags über die angekokelte Matratze von Sabine Christiansen machen wird. »Ich habe natürlich nicht alle Sachen im Kopf, aber dafür haben wir hier ein Musikarchiv, oder wir holen uns die Noten – so wie bei Midnight Oil – aus dem Internet.« Anschließend kommen die Musiker zusammen und proben die Stücke ein. Nach der Show verschwindet die Band sehr schnell wieder in den Garderoben und Autos. »Das ist ein Vorteil dieses Fabrikgeländes hier draußen, dass es einen nicht dazu verleitet, nach der Show noch schnell um die Ecke einen trinken zu gehen. Als wir die Sendung noch am Friesenplatz gemacht haben, war diese attraktive City-Lage nicht besonders gesundheitsfördernd«, erwähnt der 44-jährige Vater zweier Töchter, der sich ohnehin entschieden hat, Rock’n’Roll zu leben, ohne sich gesundheitlich zu ruinieren: »Früher habe ich die Nächte durch im Studio gehangen, aber seit einiger Zeit arbeite ich viel lieber in meinem Tageslichtstudio, wenn es hell ist.«
Selbstgebaute Band
Als Zerlett 1995 gefragt wurde, ob er Lust hätte, die Livemusik zu 200 Late-Night-Shows beizusteuern, lehnte er zunächst ab. »Ich war zu der Zeit noch Keyboarder bei Marius Müller-Westernhagen und hatte wenig Lust, das für irgendein Showcase aufzugeben, um Paul Shaffer, den Bandleader bei Letterman, zu kopieren.« Als Zerlett aber zugesichert wurde, sein eigenes Ding mit einer nach seinen Wünschen zusammengestellten Band machen zu können, sagte er zu. Fast alle Musiker, die er daraufhin versammelte, tauchen irgendwo zu früheren Zeitpunkten in Zerletts Vita auf. Rosko Gee, den ehemaligen Bassisten von Steve Winwoods Traffic und Jimmy Cliff, hat Zerlett über Can kennen gelernt, mit deren Köpfen Jaki Liebezeit und Holger Czukay er seit Mitte der 70er Jahre immer wieder gearbeitet und experimentiert hat. »Auch Rosko hat mir sehr viel beigebracht, er ist einer meiner Lehrer und Mentoren, er ist es auch, der Antoine Fillon in die Band gebracht hat.« Der französische Schlagzeuger spielt an Stelle des Unknown-Cases-Drummers Stefan Krachten, den Zerlett ursprünglich wollte. Aus gesundheitlichen Gründen musste Krachten absagen, »erstaunlicherweise die einzige Absage, die ich bekommen habe, ansonsten habe ich genau die Band zusammen bekommen, die ich haben wollte. Die hatten zwar dieselben Vorbehalte gegen Fernsehen wie ich, dachten sich aber, o.k., wenn Helmut das macht, wird das schon in Ordnung sein.«
Trompete spielt Thomas Heberer. Heberer ist sowohl auf Platten des Berlin Contemporary Jazz Orchester zu finden wie auf Scheiben von Trance Groove, die umgekehrt immer mal wieder Helmut Zerlett bei Konzerten auf die Bühne bitten. In den 80ern war Heberer der Shooting Star der Kölner Jazz-Szene, mit der holländischen Jazzlegende Misha Mengelberg spielt er heute noch. Mit Gitarrist Axel Heilhecker hat Zerlett 1979 in London das erste Album der Food Band mit Wolf Maahn eingespielt. Heilhecker blieb noch eine Weile bei Wolf Maahn, bevor man sich auf der linken Bühnenseite im Fernsehstudio in Köln-Mülheim wiedertraf. Hinter Zerletts Rücken ist ein noch ein zweites Keyboard aufgebaut, an dem Jürgen Dahmen steht. Dahmen war in den 80ern beteiligt an dem Wave-Projekt Propaganda und dem No-Wave-Projekt Härte 10, davor spielte er freien Jazz. »Ich wollte noch einen zweiten Keyboarder in der Band haben, weil ich am Anfang ja noch Verpflichtungen bei Westernhagen hatte«, begründet Zerlett die Dopplung, »aber Dahmen ist darüber hinaus meine rechte Hand bei unseren Arrangements.« Saxophonist der Zerlett-Band ist Mel Collins, Gründungsmitglied von King Crimson, dessen Name bei genauem Hinsehen wahrscheinlich in fast jeder Plattensammlung irgendwo im Kleingedruckten zu finden ist: vielleicht in den Sleeve Notes der Stones oder bei Brian Ferry, Bob Dylan, Joan Armatrading, Joe Cocker, Eric Clapton – und Milli Vanilli.
Spezielle Art des »Muckertums«
Den Spirit des R’n’R-Lifestyle, sofern er sich aus zweistündigen Shows mit Zugaben, viel Schweiß, einem wilden Leben on the Road in eingeschworenen Männergemeinschaften zusammensetzt, wird man bei den allabendlichen TV-Darbietungen der sieben Berufsmusiker nicht finden. Es ist eher eine spezielle Form des »Muckertums«: ein Job nach Maßgaben anderer. Das kreative und künstlerische Potenzial aller Bandmitglieder wird nur in Ansätzen angezapft, die Beschränkung auf die gewissenhafte Erfüllung der Tagesanforderungen zu festen Arbeitszeiten wird mit einer gewissen Standortsicherheit und einer guten Bezahlung vergolten.
»Natürlich ist unser Showcase etwas anderes als ein Auftritt mit Marius vor 70.000 Leuten im Stadion, es gibt andere Reize und eine andere Art der Befriedigung«, antwortet Zerlett, wenn er gefragt wird, wo der Musiker denn seinen Spaß hat, wenn die Leute doch hauptsächlich gekommen sind, um die Show und dessen Master zu erleben. »Der Reiz liegt in der Konzentration, die Einsätze müssen auf den Punkt stimmen, schon eine Sekunde Pause ist im Fernsehen tödlich, und wir müssen von 0 auf 100 grooven, wir können uns nicht eine halbe Minute lang live warm spielen, die Zeit haben wir gar nicht, wir müssen sofort da sein.«
Für jedes Bandmitglied stehen drei bis vier Ersatzleute bereit, »aber in den sieben Jahren sind die Reservisten erstaunlich selten zum Einsatz gekommen«, wundert sich Zerlett, der seit der ersten Harald-Schmidt-Show am 5. Dezember 1995 mehr als 1000 Shows gespielt hat. Inzwischen trägt sich die Band mit dem Gedanken, das Fernsehstudio einmal zu verlassen und Gigs zu spielen, vielleicht auch Aufnahmen zu machen. »Das bietet sich nach sieben Jahren einfach an, wir werden anfangen Material zu sammeln, aber auch eigene Stücke zu schreiben.« Das Tonstudio erwartet die Band bereits mit offenen Türen, – es ist Zerletts eigenes. Vor zehn Jahren hat er das Nightwater Studio eröffnet, in dem sich zuletzt Michael Mittermeier, Jim Capaldi oder auch die Prinzen einfanden. Mit Non Food Publishing verfügt Zerlett zudem über einen eigenen Musikverlag. Ohne Zeitdruck arbeitet er in seinem Studio an einem Soloalbum. »Ich möchte darauf möglichst viele Musiker haben, zurzeit spiele ich mit verschiedenen Schlagzeugern Tracks ein, Antoine aus der Schmidt-Show ist dabei, Jim Capaldi von Traffic, Stefan Krachten und Jaki Liebezeit.«
Bei Liebezeit, mit dem Zerlett vor fast 30 Jahren Rhythmikstudien unternommen hat, lernt er gerade eine neue Art von Schlagzeug zu spielen. »Ein Schlagzeug für Beinlose – alles wird mit den Händen gespielt, auch die Bassdrum. Jaki sagt immer, ein Instrument darf nur so groß sein, dass man es alleine tragen kann.«
Musikalische Früherziehung
Bevor der junge Helmut in den Umkreis von Can geriet, hatte er die Schule ein Jahr vor dem Abitur geschmissen, um nur noch Musiker zu sein. »Die Schule war in dieser Hinsicht hinderlich geworden. Meine Eltern hätten natürlich lieber gesehen, wenn ich Arzt geworden wäre, aber die Hammondorgel zuhause war schließlich Schuld, dass ich überhaupt Musiker werden wollte.« Ein Jahr lang studierte Zerlett nach vielen Jahren Orgel-Unterricht Klavier bei einer Dozentin des Kölner Musikkonservatoriums. Diese Dozentin stellte ihn schließlich vor die Entscheidung, entweder fortan das klassische Programm nachzuspielen, oder eigene Musik zu komponieren. Der 16-Jährige entschied sich für Letzteres. Die ersten Einflüsse kamen aus der elektronischen Avantgarde: Kraftwerk, Tangerine Dream, Popol Vuh und eben Can – die ganze Moog-Fraktion hatte ihn mit ihren bis dahin nicht gehörten Sounds infiziert. »Liebezeit war es auch, der uns damals dazu brachte, uns von den amerikanischen Rock-Pattern zu lösen, weg von den Riffs. Aber auch weg von diesen gigantischen Keyboard-Burgen und Riesen-Schlagzeugen à la Emerson, Lake & Palmer.« Die Hochzeit des Jazzrocks überlebte Zerlett nicht unbeschadet: »Wir haben auch irgendwann angefangen diese Hochgeschwindigkeitssachen zu spielen, bis ich eine doppelte Sehnenscheidenentzündung hatte und mit eingegipsten Armen merkte, dass mein Körper diese Art von Musik nicht mitmachen will.«
Mit 19 Jahren schrieb Zerlett seinen ersten Score. Udo Kier (»Man kannte sich von Parties.«) hatte ihn gefragt, ob er keine Lust hätte, die Musik zu dem Film »Last Trip to Harrisburg«, bei dem auch Fassbinder mitwirkte, zu machen. »Der Soundtrack wurde sehr apokalyptisch, Punk in Langsam.« 1983 landete Helmut Zerlett mit den Unknown Cases einen Dancefloor-Hit. Das Stück »Masimbabele« eröffnete die Ethno-Dance-Welle, verkaufte sich über 100.000-mal, und machte auch Müller-Westernhagen auf Zerlett aufmerksam, dessen Keyboarder er dann zwölf Jahre lang war. Hervorgegangen waren die Unknown Cases aus Dunkelziffer, an denen sich der Name auch anlehnt: Estimate Number of Unknown Cases. Das »offene Projekt«, das im Kern aus Zerlett und Stefan Krachten besteht, existiert ohne Masterplan fort, hat zuletzt mit der japanischen Sängerin und Bill-Laswell-Entdeckung Phew eine Single-CD herausgebracht. Ein anderer Musiker, auf den Zerlett regelmäßig trifft, ist Ex-Whirlpool Hans Nieswandt. Er ist Zerletts Schwager. »Ab und an remixen wir uns gegenseitig, und dann kochen wir zusammen.«
Feierabend mit Helge Schneider
Durch die Projekte mit Czukay und Liebezeit sieht sich Zerlett in der Tradition der Neuen Musik Stockhausens, mit dessen Sohn Markus er ebenfalls gearbeitet hat. »Im Grunde bin ich zunächst für jede Art von Musik empfänglich und kann mir überall Inspirationen holen, es sei denn, Musik ist penetrant, dann machen bei mir die Ohren zu.« Immer noch für eine Inspiration gut nach all den Jahren ist ihm auch Klaus Doldinger, zu dessen Konzert im Stadtgarten Zerlett gleich nach Feierabend mit Schmidt-Gast Helge Schneider fahren wird. Im metallicblauen Porsche. 1997 hat Zerlett die Musik für das TV-Movie »Die Diebin« geschrieben. In dem Film spielt ein Porsche Boxster eine wichtige Rolle, und je häufiger Zerlett die Filmsequenzen bei der Arbeit sah, umso schöner erschien ihm das Auto. Als der Soundtrack stand, war die erste Handlung der Kauf eines gebrauchten Sportwagens dieses Herstellers, der ihn noch immer so begeistert wie Sushi und Sounds.