Wie dunkel ist die Welt der Migration?
Feridun Zaimoglu und Günther Senkel haben vom Kölner Schauspiel, das sich in der ersten Spielzeit unter Intendantin Karin Beier schwerpunktmäßig dem Thema Migration widmet, einen Stückauftrag erhalten. Dass das Autorenduo eine gute Wahl sein könnte, legten nicht nur ihre »Schwarzen Jungfrauen« über Neo-Muslima nahe, uraufgeführt 2006 im Berliner Hebbel am Ufer. In ihrem neuen Stück »Schattenstimmen« widmen sie sich den sogenannten »Illegalen«, Menschen, die weder eine Aufenthaltserlaubnis noch einen Pass für ihr Leben in Deutschland besitzen.
Für ihre neun Monologe haben die Autoren in der »Dunkelwelt der Migration« recherchiert, wie das Spielzeitheft etwas raunend formuliert. Brutale und explizite Texte stehen vordergründig unscheinbaren gegenüber. Die Brutalen geben einer marokkanischen Spülhilfe Stimme, einem afrikanischen Stricher oder einem schwarzen Dealer.
Hass, Gewalt und Sex
Einerseits darf man Zaimoglu und Senkel dankbar sein, besonders in den expliziten Monologen eine Art wirklichkeitsgetränkter Kunstsprache zu verwenden. Sie holen den Dreck der Realität ins Theater, aber nicht in plumper Abbildung. Andererseits stellt sich nach der Hälfte dieser Suaden des Ausgestoßenseins, des Hasses, der Gewalt und des Sex Überdruss ein. Auch wenn das genau die »realitätsblinde« Reaktion sein dürfte, die die Autoren vielleicht desavouieren wollen, bleibt die Frage: Wen meinen sie mit ihrer Feier der Fäkal- und Genitalsprache, in die sich der Text bisweilen in einer dem Thema kaum angemessenen Weise verkehrt? Die Realität der Betroffenen oder doch nur die eigene gewiefte Könnerschaft?
Nach Absage der aufstrebenden Regisseurin Jette Steckel hat das Schauspiel überraschend die Assistentin Nora Bussenius mit der Uraufführung betraut. Bussenius versucht, ihre eineinhalbstündige Inszenierung allmählich zu einem infernalischen Kunstraum des Lebens im Untergrund zu steigern. Die Spieler bemalen sich, sie verkleiden sich mit grellbunt bemalten, lumpigen Hosen, Kitteln, Tutus und Korsetten in lebendige Chiffren von »Fremdheit«. Aber die Regisseurin bleibt bei ihrem Versuch zu unentschieden.
Nur wenn Patrick Gusset, als schwarzer »Superdealer« mit Hornbrille, seinen verwirrten, extremistischen Monolog über Aids (seine Vollversion lautet: »Afrika ist dumme Sau«) gegen »aims« (die »Ziele des schwarzen Mannes«) hält, erfährt die Aufführung eine verrückte, inhaltlich sinnvolle, befremdende Steigerung. Denn Kunst soll und darf versuchen, durch Verfremdung eine neue ästhetische Erfahrung eines »Problems« zu ermöglichen. Das kann allerdings, wie in manchen Monologen der Autoren, auch nach hinten losgehen.
Eine andere Version des nach wie vor boomenden Dokumentartheaters liefert der Regisseur und Autor Nuran David Calis. Calis, als Sohn jüdisch-armenischer Einwanderer aus der Türkei 1976 in Bielefeld geboren, brachte eine Koproduktion des Kölner und des Essener Schauspiels in der Halle Kalk zur Uraufführung.
Calis ist ein Beispiel dafür, dass große und kleine Stadttheater im Zuwanderungsland begonnen haben, sich der Wirklichkeit anzunehmen. Zugleich lässt höchst selten ein Theater sie in expliziter Form auf die große Bühne. Die vorherrschende ästhetische Prämisse bleibt die des Repräsentationstheaters. Ob sie in nicht allzu ferner Zukunft tatsächlich abgetragen sein wird, ist schwer vorherzusagen.
»street credibility« im Theater
Calis verfolgt in seinem Drama »Stunde Null Vol. I-III« die Geschichte der Zuwanderung in Deutschland in drei Kapiteln, von 1955 bis heute, von der ersten Einwanderer-Generation bis zur dritten. Calis ist bekannt (und bei Intendanten beliebt) dafür, »street credibility« aufs Theater zu bringen. Sein Stück liest sich etwas holzschnittartig in der schlichten Aneinanderreihung der drei Generationengeschichten. Seine Inszenierung geht geschickt und ungeschickt zugleich vor. Sie fängt stark an: Aus den zahlreichen kleinen Lautsprechern im Saal dringt ein halliger Mix aus Stimmen, Sätze wie »Im Dezember 1955 schlossen die beiden Länder Italien und Deutschland ein Abkommen, das die Welt in Europa für immer verändern sollte«. Parallel läuft ein Video, das das Eindringen unzähliger Samen in eine Eizelle zeigt.
Dann wechseln sich selbst‑ gedrehte Videoszenen ab mit historischem Filmmaterial über und Interviews von Einwanderern der ersten Generation. Vor allem das historische Material wirkt dramaturgisch schlecht integriert. Es hält belehrend auf Distanz, was nicht zu Calis’ emotionaler Theatersprache in den folgenden Spielszenen passt.
In ihnen erzählt er zunächst die Geschichte zweier Italiener der ersten Einwanderergeneration. Teil zwei zeigt das Istanbuler Paar Asye und Hassan 1969 bei ihrer Trennung vor der Abreise. Zwanzig Jahre später kommt es zu einem aufwühlenden Wiedersehen. Teil drei gehört dem politisch frustrierten Jura-Absolventen Karim, der in seine »Heimat« Iran »zurück« will, die er nicht kennt.
Calis’ Auswahl möglicherweise typischer migrantischer Situationen wirkt überzeugend. Es fehlt ihm als Regisseur aber an einer schlüssigen Zusammenführung der angewandten Mittel, nicht wenige Szenen sind bloß hölzern gespielt.
Karin Beier hat inzwischen ihren mit Spannung erwarteten Spielplan für die kommende Saison vorgelegt. Wenn nicht alles täuscht, führt sie darin den stark begonnen, politisch interessierten Ansatz fort, Thema diesmal ist die Frage nach einer deutschen Identität. Damit können viele Stränge aufgenommen werden. Das ist gut so. Und immer noch mutig.
»Schattenstimmen« 4., 5., 9.6., Schlosserei, 20 Uhr. »Stunde Null« 19., 21., 22.6., Halle Kalk, 19.30 Uhr