Fatum, Medium, Simulacrum

Zeitgenössische Dramatik zu Gast in NRW: vier neue deutsche Stücke und ihre Uraufführungen in Köln, Mönchengladbach, Bochum und Dortmund. Von Rolf C. Hemke

Bildhaft gesprochen könnte man sich das moderne Individuum vor einem langen Tisch voller komplizierter technischer Band-, Platten- und Aufnahmegeräte vorstellen, auf einer Bühne wie der von Franziska Rast in den Bochumer Kammerspielen. Der bunt blinkende Schriftzug »Motel« im Bühnenhintergrund signalisiert universelle Ortlosigkeit. Betrachten wir die Figuren Daniel und seine Frau Helene, die mit Fabian schläft, dem Ex-Freund von Juliane. Sie stecken in diesem Niemandsland zwischen Jungsein und Midlifecrisis, sind Anfang oder Mitte Dreißig und haben irgendwelche schicken Berufe. Jetzt sind wir mitten im neuen Stück »Selbstportraits. 48 Details« von Thomas Oberender (Jg. ‘66), seit zwei Jahren Chefdramaturg unter Matthias Hartmann in Bochum, wo es gerade uraufgeführt wurde. In seinen bisherigen Stücken erwies er sich als beinahe wohl tuend »altmodischer« Geschichtenerzähler.
Auch das aktuelle Stück war einmal eine komplette Geschichte, damals schien der Schritt zum elegant abgründigen Konversationsstück nicht mehr weit. Doch dann suchte Oberender neue Wege und fragmentierte sein Stück in 25 Szenen. Der Autor hat sozusagen seine eigenen Dialoge überwunden. Das was sonst die Arbeit von Regisseuren ist, die Zersetzung, Zerfaserung, dieses Innerste-nach-Außen-Kehren, hat Oberender mit seinem Stück versucht. Dem quasi vorauseilenden Gehorsam des Autors hat Isabel Osthues mit ihrer Inszenierung nicht mehr viel hinzuzufügen, auch sie vermag dem Stück nicht die verloren gegangene Struktur zurückzugeben.
Wo Oberender das Individuum noch ins Verhältnis zur Technik setzt, da sieht es Ulrich Hub von ihr schon unbemerkt verschlungen. Sein Stück »Blaupause« beschreibt das making of... »Blueprint«, einem Thriller der Superlative, der das Thema Klonen zum Gegenstand hat: Menschen sollen als genetische Kopiervorlage benutzt werden, eben als »Blaupausen«, um sie zu reproduzieren. Auch wenn der homo sapiens wissenschaftlich noch nicht vollständig geklont wird: Das scheinbar vertraute Bild prominenter Personen ist soweit medial generiert, dass es mit der tatsächlichen Person nur noch das fotografierte Lächeln gemein hat. Der mediale Klon ist längst zur Normalität geworden: So kann man die Quintessenz von »Blaupause« überspitzt formulieren. Die Ausgangssituation des neuen Stücks des Tübinger Dramatikers Ulrich Hub (Jg. ‘63) ist allerdings derart auf der Höhe der Zeit, dass man beim Lesen manches Mal befürchtet, die Luft würde allzu dünn. Die einzelnen Szenen fallen qualitativ sehr unterschiedlich aus, zwischen bemüht satirischem Talkshowgeplauder und kluger poetischer Brechung.
Im Blick auf diese Heterogenität macht sich die Uraufführung durch Torsten Fischer in der Halle Kalk des Kölner Schauspiels um das Stück verdient. Denn Fischer hat Mut zum eigenen Zugriff: Mit ironischer Distanz gelingt es ihm, die Abgründe sichtbar zu machen zwischen unterschiedlich interpretierbarer Wirklichkeit, dem Anspruch auf realitätsgenaue Information und dem tagtäglichen Business des Infotainment. So bringt er das Stück immerhin auf den Punkt.
So wie Hub und Oberender mittlerweile ihren festen Platz an grossen deutschen Häusern gefunden haben, schreibt sich die Erfolgsgeschichte der Stars unserer jungen Dramatik sogar international fort: Die Stücke von Theresia Walser und Dea Loher sind mittlerweile fester Bestandteil der grossen Repertoiretheater in Skandinavien und Osteuropa - und in Polen sogar mehr geschätzt als die neuere englische Brachialdramatik von Mark Ravenhill oder Sarah Kane. Die aktuelle deutsche Dramatik wird in diesen Ländern nicht nur als Aufbruch einer neuen Generation wahrgenommen, sondern auch als Frucht einer systematischen institutionellen Förderung, die jungen AutorInnen in Deutschland in einem Maße zuteil wird, dass sich wohl so mancher große deutsche Sportbund daran ein Beispiel nehmen könnte.
Dreh- und Angelpunkt dieser Autorenförderung ist der international renommierte Studiengang »Szenisches Schreiben« an der Berliner Hochschule der Künste (HdK), aus dem etwa Dea Loher oder Thomas Oberender hervorgegangen sind. Einen vielbeachteten Fokus auf die junge Dramatik liefert inzwischen auch der »Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker«, insbesondere durch die mit der Verleihung verbundene Uraufführungsgarantie. Preisträgerin 2001 war die Berlinerin Katharina Schlender mit »Trutz«, dem bereits neunten Stück der erst 24-jährigen HdK-Absolventin. Die Uraufführung inszenierte jetzt Thilo Voggenreiter im Rheydter Studio der Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach.
Im Zentrum der Geschichte steht die Familie Felschelin, die über ihrer kleinen Autowerkstatt wohnt. Sohn Trutz soll nach dem Wunsch seiner Eltern einerseits den Betrieb übernehmen, andererseits aber bitte auch nicht erwachsen werden. Seine Freundin Gerda hingegen, die bei der Familie wohnt, drängt ihn zu Verlobung und Heirat, um ihren Schwiegereltern gegenüber ein Stück Autonomie zu gewinnen. Trutz, von der Situation überfordert, beginnt unbeholfen zu revoltieren. Als er sich endlich aus der Familie gelöst hat, kann er mit seiner neu gewonnenen Freiheit plötzlich nichts mehr anfangen. Das Stück changiert merkwürdig zwischen Pubertäts- und Sozialdrama. Die Frage, ob man ein Jugend- oder »Erwachsenen«-Stück vor sich hat, mag manchen Dramaturgenkopf irritieren, in dieser Mehrdeutigkeit liegt aber auch ein Reiz nicht nur dieses Stücks von Katharina Schlender. »Trutz« ist in einer stark rhythmisierten, gestisch orientierten Verssprache geschrieben. Während die erste Texthälfte eine grosse Dichte und Prägnanz aufweist, bietet die zweite – in mehreren Fassungen vorliegende – nurmehr ein wortreiches und darin sonderbar formloses Bild für Trutz‘ Scheitern im Aufbruch. Das starke Zentrum der Inszenierung von Thilo Voggenreiter ist Paul Kaiser, der die Titelrolle durch seine eigenwillige Körpersprache zu prägen versteht: Dieser Trutz steht ständig unter Strom, ringt um Fassung, kann aber seinen unbändigen Drang nach Selbstbehauptung nicht beherrschen.
Konnte man vor einigen Jahren noch den Eindruck haben, die jüngere deutsche Dramatik berufe sich auf die Horvàth-Fleißer-Kroetz-Linie, verbieten sich mittlerweile alle Kategorisierungen. So unterschiedlich die Werdegänge der AutorInnen, so verschieden prägen sich auch die Stile und Inhalte aus. Irgendwo zwischen Medium, Internet und Einzelschicksal. Bei diesen SchreiberInnen kann schon allein übermäßiger Theaterkonsum zu Textdrang führen: In Dortmund war die Uraufführung eines Textes von Ronald Pohl (Jg. ‘65) angekündigt, dem Chefkritiker der größten seriösen österreichischen Tageszeitung, des Wiener Standard. Pohl gesellt sich mit seinem Text allerdings nicht in die Reihe der jungen deutschen Feuilletonprominenz der Rinkes und von Uslars, die ihr mittelmäßiges literarisches Talent gepaart mit ihrem überdurchschnittlichen Narzissmus erfolgreich in den Medien zu Markte tragen. Er hat mit »Der Möwensimulator« eine eigenwillige Textfläche geschaffen, die in ihrem Duktus zunächst Heiner Müller folgt, sich bei genauem Lesen aber auflöst in einen theatralen Metatext aus Zitaten von Handke über Beckett und Tschechow bis Shakespeare, aus Feuilletonsätzen und Fragmenten aus Medizinlexika. All das verschraubt Pohl so miteinander, dass sich aus müden Wortklaubereien und ironisch paraphrasierenden Wortspielen selbst eine Art bös-ironische Textsimulation formt.
Der 26-jährige Philipp Preuss hätte anscheinend lieber direkt Tschechow inszeniert. Jedenfalls lässt er zwei Stunden lang ein laukomisches Extrakt aus dessen »Möwe« spielen. Auf seine recht marthalerhaft verkommenen Figuren verteilt der Regisseur einige Textfragmente Pohls, die hier die Schreibereien des erfolglosen Tschechowschen Textwerkers Kostja illustrieren sollen. Eine Uraufführung war das nicht. Manchmal bleibt die Jugend hinter dem eigenen Anspruch eben auch mutlos zurück.
»Selbstporträts. 48 Details« von Thomas Oberender, R: Isabel Osthues, Schauspielhaus Bochum/ Kammerspiele, 28.2., 21.3, 19.30 Uhr, Karten: 0234/ 3333111; »Blaupause« von Ulrich Hub, R: Torsten Fischer, Halle Kalk, 22.-24.2., 19.30 Uhr; »Trutz« von Katharina Schlender, R: Thilo Voggenreiter, Theater Mönchengladbach/ Studio Rheydt, 24.2., 5.3., 19.30 Uhr, Karten: 02166/ 6151100; »Der Möwensimulator« von Ronald Pohl, R: Philipp Preuss, Theater Dortmund/ Studio, 1., 17., 24.3., Karten: 0231/ 5027222.