Staat im Staate

Sozialer Hyperrealismus: Matteo Garrone findet mit »Gomorrha«

überzeugend eine eigene Position in der reichen Tradition des Mafiafilms

Kein Staat kommt ohne Beamte aus, also auch kein Staat im Staate. Neben ihrem Heer an Fußsolda­ten beschäftigt die neapolitanische Mafia etliche Buchhalter wie Don Ciro, der jede Woche ein stattli­ches Geldbündel entgegen nimmt, es in die abgewetzte Jacke steckt und sich in seinem Wohnblock auf die Runde macht. Wer ein Familienmitglied beerdigt oder an die ­Gerichtsbarkeit verloren hat, bekommt von ihm seine Rente ausbezahlt. Jeder kennt Don Ciro, jeder grüßt ihn, stets war der streng gescheitelte Mann ein treuer Diener seines Herrn. Doch seitdem sich sein Clan in zwei verfeindete Gruppen aufgespalten hat, weiß er nicht mehr, wem er dienen soll. Aus Angst verrät er den Abtrünnigen, wo ihm das Geld übergeben wird, und überlebt als einziger den Überfall auf ein Versteck der Camor­ra. Zitternd steigt Don Ciro über Leichen und Blutlachen hinweg ins Freie und geht eine kleine Anhöhe hinauf. Zum ersten Mal seit langer Zeit löst sich die Kamera von ihm und erlaubt einen Blick aus der Totalen: Der Tatort, eine kleine Holzlaube, liegt nur wenige Schritte von einer viel befahrenen Straße entfernt, im Hintergrund ahnt man den Stadtkern von Neapel.

In Italien ist der Mafia-Film traditionell eine Untergattung des sozialen Realismus. Auch Matteo Garrone bleibt in seiner Bestseller-Verfilmung »Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra« stets ganz nah bei den Figuren und entdeckt in der alltäglichen Misere die Keimzelle der organisierten Kriminalität. Ein gewissenhafter Aufklärer wie sein Landsmann Francesco Rosi ist er allerdings nicht. Wer nach dem System der Camorra oder nach gesellschaftlichen Zusammenhängen fragt, ist bei Garrone falsch. Stattdessen lässt er in sechs Episoden den schäbigen Alltag des Mordens, Ausbeutens und Betrügens an uns vorüberziehen: Am helllichten Tag wird Giftmüll in einer illegalen Deponie versenkt, Drogen und Waffen wechseln die Besitzer, im Schutz einer Höhle werden Kindersoldaten rekrutiert. Aus den angedeuteten Erzählungen ent­wickeln sich weder ein roter Handlungsfaden noch Hauptfiguren, die diesen Namen verdienen würden. Es gibt nur Getriebene, trostlose Schauplätze und das Recht des Stärkeren.

Mafia im klassischen Hollywood

Der Unterschied zu den klassi­schen Mafia-Filmen Hollywoods könnte nicht größer sein. Während das organisierte Verbrechen im Heimatland der Mafia als Pervertierung der bürgerlichen Wirtschafts- und Lebensform erscheint, wurde es in Amerika der Mytho­logie des Gangsters einverleibt. Howard Hawks »Scarface« und William A. Wellmans »Public Enemy« machten während der Depressionszeit die Figur des tragischen Verbrechers populär, der sich mit Gewalt nimmt, was den verarmten Arbeitern verwehrt bleibt, und am Ende mit dem ­Leben dafür bezahlen muss. Auf diesem Umweg erklärte sich Hollywood mit den Millionen Menschen solidarisch, die sich um den amerikanischen Traum betrogen fühlten. Die Organisationsform der Mafia spielte auf der Leinwand nur eine geringe Rolle. Sie war das Mittel, um den radikalen Indi­vidualismus der Gangster zum Erfolg zu führen.

Ein neues Kapitel des amerikanischen Gangsterfilms schlug Francis Ford Coppola mit seinem Mafia-Epos »Der Pate« auf. Statt des Einzelnen steht bei ihm die Familie im Vordergrund: Der verlorene Sohn Michael Corleone kehrt in ihren Schoß zurück, gibt sein altes Leben auf und opfert im zweiten Teil der Saga seinen ei­genen Bruder dem Erhalt der familiären Macht. Trotz der düsteren Grundstimmung gelang es Coppola, die Corleones sowohl zum Hüter altmodischer Werte als auch zum Schutzwall gegen die rücksichtslose Gewalt des Drogenhandels zu stilisieren. Dieser Verklärung setzte Martin Scor­sese knapp zwei Jahrzehnte später die selbstzerstörerische Gruppen­dyna­mik eines kleinbürgerlichen Mafia-Clans entgegen. In »Goodfellas« führen Dummheit und Verfolgungswahn unweigerlich zum Untergang der kriminellen Großfamilie.

Eigenständiger Weg

Im Gegensatz zu Coppola kannte Scorsese seinen Gegenstand aus eigenem Erleben – eine Erfahrung, die er mit dem Neapolitaner Francesco Rosi teilt. Des­sen Filme sollen allerdings keinen Mythos demaskieren, sondern sind von vornherein als akribische Spurensuche im Realen an­gelegt. In »Wer erschoss Salvatore G.?« griff Rosi einen wahren und ungelösten Fall auf, drehte an Ori­ginalschauplätzen und entwickelte seine Geschichte von Aufstieg und Fall eines Verbrechers bei­nahe beiläufig aus dem Porträt des ländlichen Lebens Süditaliens.

An diesem Punkt ist Matteo Garrone dem alten Meister Rosi am nächsten und treibt dessen Ästhetik zugleich über sich hinaus: Man muss die gewaltigen, wie Gefängnisse konstruierten Wohnsilos gesehen haben, die verwitterten Strandanlagen, Steinbrüche und verwaisten Bauruinen, die ausgedörrte Erde dieser Welt, um zu verstehen, wie Roberto Saviano, Autor der Buchvorlage, seine Heimat mit dem biblischen Gomorrha vergleichen konnte. Mit seiner schon wieder hyperrealististischen Stilisierung beschreitet Garrone einen eigenständigen Weg zwischen den traditionellen Wegmarken des Mafia-Films. Am toten Meer seiner urbanen Wüste wird »Gomorrha« zur beredten Darstellung eines Landstrichs, in dem sich das Verbrechen zum alleinigen Richter über Leben und Tod aufgeschwungen hat. Die Camorra ist ein Gott, der straft und belohnt, Freunde zu Feinden macht und das Blut der Menschen vergießt, als wären diese nicht ­unschuldig geboren.

Info
Gomorrha (dto) I 08, R: Matteo Garrone, D: Salvatore Abruzzese,
Simone Sacchettino, Salvatore Ruocco, 135 Min. Start: 11.9.