In der Zwickmühle

Es ist ein schöner Sommertag, die Frauen tragen die neueste Bademode spazieren und die Kinder toben im Wasser. Nur der kleine François fröstelt im Sommerwind und wird unter den skeptischen Blicken seines Vaters nach Hause geschickt. Auch im heimischen Turnsaal bleibt der schmächtige Junge hinter den Erwartungen zurück und erträumt sich einen unsichtbaren Bruder, der seinen Vater mit sportlichen Bestleistungen zufrieden stellt. Nichts ahnend ist François damit einem sorgsam gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur gekommen: Sein Halbbruder wurde von den Nazis umgebracht. Doch warum sind Schmerz und Scham so groß, dass die Eltern über den Toten kein einziges Wort verlieren? Erst als Teenager erfährt François von einer Nachbarin, wie gespenstisch nah seine kindliche Fantasie der Wirklichkeit gekommen war.
Das erste Geheimnis führt in diesem überaus eleganten und zugleich moralisch höchst verzwickten Melodram nur zu einem weiteren, weit größeren Geheimnis, und Claude Miller lässt sich alle Zeit der Welt, es uns zu eröffnen. Er springt zwischen den Jahren hin und her, ist mal im Paris der 50er Jahre daheim, mal in den 80ern, und rollt die Geschichte einer jüdischen Familie von ihren Anfängen in den Vorkriegsjahren her auf. Alles beginnt mit einer Hochzeit, auf der sich der Bräutigam in seine Schwägerin verliebt: Sie ist blond und groß gewachsen, sportlich wie er selbst und überhaupt das genaue Gegenteil der Braut. Der bleibt die auf sehnsuchtsvolle Blicke beschränkte Affäre nicht lange verborgen, vorerst schweißt der sich ankündigende Weltkrieg die Familie allerdings noch eng zusammen.

»Ein Geheimnis« beruht auf den Erinnerungen des französischen Schriftstellers und Psycho­analytikers Philippe Grimbert und wird aus der angenehm zurückhaltenden Perspektive des erwachsenen François erzählt. Dabei geht es um Dramatisches: Liebe und Tod, Eifersucht und Strafe, Selbstbehauptung und Selbstverleugnung. Das Thema der jüdischen Identität ist bei all dem ein verstecktes Leitmotiv. In einer Szene lässt Miller Wochenschaubilder der Olympischen Spiele über die Leinwand eines Kinos flimmern und legt uns den Gedanken nahe, die verhinderten Geliebten könnten einander auch deswegen begehren, weil sie beide so gar nicht dem jüdischen Klischee entsprechen. Am Ende lüftet Miller das tragische Geheimnis und stellt seine Figuren doch nicht vor der Welthistorie bloß. Ihre Geschichte bleibt privat, auch wenn sie nahtlos im großen Ganzen aufzugehen scheint.


Ein Geheimnis (Un secret) F/D 07,
R: Claude Miller, D: Patrick Bruel, Cécile De France, Ludivine Sagnier, 105 Min.
Start: 18.12.