Niederschmetternd nüchtern
Die Geschichte ist so unglaublich, dass man sie als Drehbuchidee niemandem abkaufen würde: Eine alleinerziehende Mutter kommt von der Arbeit nach Hause und stellt fest, dass ihr neunjähriger Sohn verschwunden ist. Monate später wird ihr von der Polizei ein Junge ausgehändigt, der behauptet, ihr Kind zu sein. Die Frau bestreitet das und legt zum Beweis zahnmedizinische Unterlagen und Zeugenaussagen vor, woraufhin sie von der Polizei kurzerhand in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird. Erst als durch Zufall ein Serienkiller gefasst wird, ergeben die Ermittlungen auch Aufschluss über den Verbleib ihres Sohnes.
Diese Geschichte trug sich 1928 in Los Angeles zu. Ihre niederschmetternd nüchterne Verfilmung durch Clint Eastwood stützt sich laut Drehbuchautor J. Michael Straczynski weitgehend auf Aktenmaterial. »Der fremde Sohn« nimmt dabei über weite Strecken die Perspektive der resoluten, aber angesichts der Umstände ziemlich hilflosen Protagonistin Christine Collins (Angelina Jolie) ein. Einer der Faktoren, die solch eine bizarre Tragödie möglich machten, wird früh von einer Nebenfigur, einem populistischen Prediger (John Malkovich), benannt: die notorische Korruption der örtlichen Polizei. Dass außerdem Frauen in jenen Jahren von bürokratischen Apparaten einfach nicht ernst genommen wurden, muss Christine schnell selbst feststellen.
Solch eine Rolle böte beste Gelegenheiten, schamlos um einen Oscar zu buhlen, weshalb man Angelina Jolie ihr reduziertes Spiel umso höher anrechnen muss. Nur die Tatsache, dass das Rot ihrer Lippen im Vergleich zu den vorherrschenden gedämpften Farben auffallend leuchtet, ruft uns ins Bewusstsein, dass Christine von einem Star verkörpert wird, dessen Prominentenstatus geradezu grotesk ist.
Noble Zurückhaltung und Selbstbeschränkung sind ohnehin stilistische Markenzeichen von Eastwood, dessen einzige, genau dosierte sentimentale Note hier im Leitmotiv der Musik besteht, die er erneut selbst komponiert hat. Sein wunderbar stoischer Erzählrhythmus verzichtet konsequent darauf, die unfassbare Geschichte durch melodramatische Zuspitzung den Erfordernissen konventioneller Dramaturgie anzupassen. Stattdessen unterstreicht eine der eindringlichsten Hinrichtungsszenen, die es je im Kino zu sehen gab, bloß die traurige Sinnlosigkeit dieser Tragödie. Selbst hier wird mit der gleichen Sachlichkeit die Brutalität der Prozedur und die Abscheulichkeit des Todeskandidaten dargestellt.
Der fremde Sohn (Changeling) USA 08,
R: Clint Eastwood, D: Angelina Jolie, John Malkovich, Jeffrey Donovan, 142 Min. Start: 22.1.