Eine eigene Geschichte
Noemi Raz hatte ein Land, das sie liebte, und eine beste Freundin, ohne die sie sich ihr Leben nicht vorstellen konnte. »Ich weiß noch genau, wie ich sie das letzte Mal zurückgebracht habe. Als wir uns auf halbem Weg nach Hause trennten, wusste ich, das ist das letzte Mal. Es war schrecklich.«
Noemi war 14 Jahre alt, als sie 1960 mit ihren Eltern von Israel nach Deutschland auswanderte. Niemand durfte von ihren Plänen erfahren. Noemi fiel es schwer, sich in Deutschland einzugewöhnen und ihre jüdischen Freunde verstanden sie nicht. Für sie lebte sie nun im »Land der Mörder«. Die Sehnsucht nach dem vertrauten Kulturkreis hatte die Eltern wieder zurück getrieben.
Oral history lesbar machen
Die Geschichte von Noemi ist eine von vielen, die in dem Buch »In Deutschland angekommen...« erzählt wird. In Interviews berichten Menschen, die seit 1955 nach Deutschland eingewandert sind, von ihren Erlebnissen. Sie sind im Rahmen des »migration-audio-archivs« entstanden, eines vom WDR unterstützten Projektes, welches das kulturelle und historische Gedächtnis der Migranten bewahren will – mittels Tonbandaufzeichnung ihrer eigenen Geschichte.
Den Ansatz, aus dieser oral history eine lesbare zu machen, erklären die Herausgeber Sefa Inci Suvak und Justus Hermann damit, dass man die Erzählungen in einen größeren Kontext habe einordnen wollen. Vom Begriff »Gastarbeiter« über die Anwerbestopps bis hin zu den strengen Asylgesetzten wird so eine alternative Chronik Deutschlands erzählt. Kurze, leicht verständliche Abrisse der historisch-politischen Lage jener Zeiten helfen beim Verständnis.
Die spontanen Emotionen der Tonaufzeichnungen gehen so natürlich verloren. »Wir haben versucht, den Charakter der Sprache des Einzelnen zu erhalten, indem wir Eigenheiten beibehalten haben«, erklärt Suvak. Stakkato-Sätze liest man genauso wie nicht geglättete Umgangssprache. Dadurch rücken die Geschichten näher an den Leser heran.
Die Geschichte einer Emanzipation
Zu welchen Missverständnissen und Problemen, aber auch zu welchen individuellen Durchbrüchen es in der neuen Heimat Deutschland kommen kann, zeigt zum Beispiel die Geschichte von Liv Laustroer. Sie wuchs in Singapur auf, lernte dort einen deutschen Geschäftsmann kennen und folgte ihm ins Allgäu.
In der Provinz galt sie dann schnell als »Katalogfrau« ihres Mannes. Bald wuchs die Distanz zwischen den Eheleuten, sie lernte eigenständig Deutsch, suchte sich Arbeit, man trennte sich. So wird ganz nebenbei auch noch die Geschichte einer Emanzipation erzählt. Ein bemerkenswertes Buch.
Sefa Inci Suvak, Justus Herrmann (Hrsg.):
»In Deutschland angekommen …«.
Einwanderer erzählen ihre Geschichte 1955 bis heute.
Wissen Media Verlag, Gütersloh/München,
2008, 349 S., 22 Euro.
Hörbeispiele unter www.migration-audio-archiv.de