Die unsichtbare Revolution
StadtRevue: Sie stellen im Titel ihres Vortrags die Frage, ob es Authentizität in digitalen Bildern gibt. So unterschiedliche Filme wie »Das Fest« und »Cloverfield« funktionieren aber nur, weil der Zuschauer gerade digitale Bilder für besonders authentisch hält. Wie kommt das?
Gundolf S. Freyermuth: Nun, diese Filme nutzen die gesteigerten Möglichkeiten digitaler Kameras, reales Geschehen einzufangen. Und sie spielen mit Formen des visuellen Realismus, an die uns das Fernsehen und unsere eigenen Heimvideos gewöhnt haben. Das sorgt für die Anmutung von Authentizität. Aber das eigentlich Neue sind die – im Idealfall – unsichtbaren Praktiken zur Bildgenerierung und Bildmanipulation.
Im analogen Film steht die ursprüngliche Bildproduktion noch im Zentrum der Arbeit, dieses Einfangen von mehr oder weniger »authentischen« Bildern mittels einer Kamera. Unter digitalen Bedingungen aber liefern die Dreharbeiten lediglich Rohmaterial zur weiteren Verarbeitung. Jedes digitale Bild ist veränderbar, schiere Verfügungsmasse zur beliebigen Manipulation. »Cloverfield« gibt ja ein sehr gutes Beispiel dafür.
Ob wir, die Zuschauer, dann den fertigen Film für authentisch halten oder ob wir das Gesehene unter den Verdacht des Künstlichen, des Inszenierten, der Fälschung stellen, hängt wesentlich von unseren Sehgewohnheiten ab. Das unterstellt ja auch schon Ihre Fragestellung: Was heutige Zuschauer als besonders authentisch empfinden, unterscheidet sich in der Tat sehr von dem, was man vor 100 oder gar 200 Jahren für authentisch hielt. Authentizität ist ein Begriff, der sich mit der Durchsetzung neuer Medien wandelt.
StadtRevue: Sie vertreten die Auffassung, dass wir an einer Epochenwende zu einer völlig neuen Art audiovisueller Kunst stehen. Aber ändert sich das Kino-Erlebnis durch die Digitalisierung wirklich fundamental, so wie sie sich etwa durch die Einführung von Ton- und Farbfilm geändert hat? Handelt es sich nicht im Vergleich um eine »unsichtbare« Revolution?
Gundolf S. Freyermuth: Wenn Sie isoliert auf das Kino-Erlebnis schauen – sicher! Dass digitale Bilder nicht zerkratzt sind, ist schön, bedeutet schwerlich aber eine Revolution. Doch dieser Blick konzentriert sich auf das Alte und übersieht das Neue. Denn das gute alte Dampfkino hat mit den radikalen Veränderungen, deren Zeitzeugen wir sind, so viel und so wenig zu tun wie etwa das Theater mit der Umwälzung, die vor 100 Jahren der Film brachte. Damals führte der historische Weg vom Theater zum Filmtheater, von der Bühne zur Leinwand. An die Stelle von wirklichen Menschen, die in einem wirklichen – im 19. Jahrhundert ja noch nicht abgedunkelten – Raum vor Publikum spielten, traten Schatten, die wie Traumbilder im Kinodunkel vor den Augen tanzen. Ich denke, gegenwärtig kündigen sich ähnliche Veränderungen an.
Das moderne Streben nach Erlebnisräumen für säkulare Audiovisionen brachte uns in den vergangenen Jahrhunderten erst die perspektivisch zugerichtete Guckkastenbühne, dann Panorama und Diorama, schließlich das Kino. Warum sollte diese historische Entwicklung plötzlich enden? Und das auch noch ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da wir mit der Digitalisierung der Bildproduktion eine epochale Medienwende erleben? Natürlich hat das Kino das Theater nicht vollständig verdrängt. Und so wird wohl auch das Kino, wie wir es kennen, kaum verschwinden. Aber es könnte sehr wohl sein, dass mit den neuen digitalen Audiovisionen wiederum intensivere und in der Konsequenz bald populärere Erlebnisräume entstehen.
StadtRevue: Mir scheint, dass Filmemacher bislang die digitalen Möglichkeiten meist lediglich dazu nutzen, um billiger zu produzieren, nicht aber um wirklich eine neue Ästhetik durchzusetzen. Der brillante Kameramann Harry Savides musste etwa bei David Finchers »Zodiac« mit viel Aufwand seine digitalen Bilder wie analoge erscheinen lassen. Ist das Bewusstsein für das neue Bildmedium noch unter Filmemachern wenig ausgeprägt?
Gundolf S. Freyermuth: Vor 150 Jahren mussten die frühen Fotografen ihre Aufnahmen durch Retusche von Hand »malerischer« gestalten, um Erfolg zu haben. Denn das unbearbeitete fotografische Bild galt dem Publikum und mehr noch den Kunstkritikern als zu hart, zu seelenlos. Sie sehen, Sehgewohnheiten ändern sich nur langsam. Zwei Generationen später aber war die Nachbearbeitung von Negativen und Positiven verpönt. Seit dem frühen 20. Jahrhundert gilt sie als Fälschung, als Zerstörung der Authentizität der fotografischen Repräsentation. Die Parallele zu Ihrem aktuellen Beispiel sticht ins Auge.
Wichtig dabei scheint mir vor allem, dass sich die jeweils überkommenen Sehgewohnheiten eben besonders an dem stören, was an neuen Medien innovativ ist. Und neu an der digitalen Bildproduktion ist nicht so sehr die Möglichkeit, Fotorealismus zu simulieren – also Bilder fotorealistisch zu manipulieren oder auch Bilder zu erzeugen, die zwar fotorealistisch wirken, die aber dennoch keine Wirklichkeit abbilden. Ästhetisch neu ist vielmehr die Möglichkeit, audiovisuelles Geschehen jenseits der fotorealistischen Zwänge und Konventionen zu gestalten, das Potenzial digitaler Bildlichkeit zur radikalen Konstruktion von Räumen und Zeitabläufen.
StadtRevue: Um zurück zur Frage der Authentizität zu kommen. Sie zeigen Orson Welles’ »F for Fake« nach Ihrem Vortrag. Hauptfigur des Film ist ein genialer Kunstfälscher. Werden bald Regisseure in ähnlicher Weise mit ihren digitalen Pinseln als »Realitätsfälscher« arbeiten?
Gundolf S. Freyermuth: Hauptfigur der ursprünglichen Dokumentation war in der Tat ein genialer Kunstfälscher, der Ungar Elmyr de Hory. Doch Welles hat, digitale Verfahren gewissermaßen antizipierend, diese Dokumentaraufnahmen nur als Rohmaterial genommen, als Ausgangspunkt seines bahnbrechenden Essays. In ihm spielen zwei weitere Fälscher eine ebenso zentrale Rolle: Clifford Irving, der ein Stück Literatur fälscht, die Memoiren des US-Milliardärs Howard Hughes. Und vor allem der Regisseur Orson Welles selbst, der ein Stück Film fälscht, nämlich diesen Filmessay.
Pointiert lässt sich sagen: Welles versucht den Wandel medialer Authentizität zu begreifen. Er spielt es durch: Was unterscheidet Original und Fälschung in der Malerei? Was in der Literatur? Was dagegen in Fotografie und Film? Vor allem mit seiner innovativen Postproduktion, der intensiven Arbeit im Schneideraum, der manipulativen Verwandlung des gefilmten Materials, nahm Welles die digitale Filmmalerei vorweg – und reflektierte zugleich ihre Verwandtschaft zu den Praktiken der vorindustriellen Künste.
StadtRevue: Welles stellte also schon vor über 30 Jahren die Fragen, die uns Zeitgenossen der Digitalisierung heute beschäftigen?
Gundolf S. Freyermuth: Ja, in der Geschichte der Authentizität, das demonstriert Orson Welles, markieren Fotografie und Film einen epochalen Wendepunkt. Zuvor kannte die Menschheit nur die visuellen und audiovisuellen Repräsentationen tatsächlicher Geschehnisse, wie sie Malerei und Theater produzierten. Noch das naturalistischste Gemälde eines historischen Ereignisses aber garantierte natürlich nicht, dass dieses Ereignis überhaupt oder gar exakt so stattgefunden hatte. Dasselbe galt für jedes Schauspiel.
Dagegen kann die Aufnahme einer analogen Kamera nur zeigen, was sich tatsächlich einmal für einen kurzen Augenblick vor ihrem Objektiv abgespielt hat. Ob die Szene nun gestellt wurde oder nicht, ob sie normalen Alltag einfing oder Inszenierungen in einem Studio: Analoge fotografische Reproduktion dokumentiert immer existierende Menschen und Dinge. Wirkliches. Die Authentizität garantiert das analoge Negativ.
Mit dem Übergang zur digitalen Audiovisualität verliert sich nun diese mediale Garantie von Authentizität. Wir kehren daher – auf einem technisch dramatisch höheren Niveau – zu vorfotografischen Verhältnissen zurück. Wenn anstelle von analogen Dreharbeiten digitale Filmmalerei tritt, dann stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, nach den Bedingungen und Qualitäten audiovisueller Authentizität gänzlich neu.
Vortrag in der Reihe »Digitale Lektionen«: »Fakten/Fiktionen/Faktionen: Gibt es Authentizität in digitalen Bildern?« Filmprogramm: »F for Fake«
von Orson Welles. Mi 4.2., 19 Uhr,
Filmforum NRW