Das Innen und Außen des Traums
In dem vielleicht berühmtesten deutschen Stummfilm, gedreht 1919 von Regisseur Robert Wiene, geht es um ein Verbrechen. Der Hypnotiseur und Schausteller Caligari veranlasst ein Medium, mehrere Menschen zu töten und wird schließlich als Direktor einer Psychiatrischen Anstalt entlarvt, der einen Insassen für seine Experimente benutzt hat. »Das Cabinet des Dr. Caligari«, der erste Psychiatrie-Film überhaupt, ist ein Meisterwerk der expressionistischen Bildsprache und hinterfragt die Macht der Institution und die Grenzen von Wahnsinn und Normalität. Am Ende lässt Regisseur Wiene die Erzählung selbst als Wahnvorstellung erscheinen.
Diese Verwirrung der Realitätsebenen interessierte Javier Téllez: In einer Kollaboration mit Psychiatrie-Patienten der Berliner Vivantes Klinik hat der New Yorker Künstler »Caligari und der Schlafwandler« eine kritische Re-Lektüre des Klassikers realisiert. Denn kann man das Thema konsequenter fortschreiben, als indem man die Autorität über das »Remake« mit den »Insassen« teilt?
Wir sind alle auch Schauspieler
Auch in »Caligari und der Schlafwandler« ist Dr. Caligari ein Hypnotiseur, der Cesare, den Außerirdischen vom Sklavenstern, aufwecken will. Doch Téllez verzichtet auf den Mord, stattdessen verschachtelt und verwebt er in einer Collage dokumentarische Interviews und fiktionale Szenen. Die Patienten erzählen von Erfahrungen mit ihrer Krankheit, dem Klinikalltag und Medikamenten, die ihnen verabreicht werden, um »Normalität« herzustellen. Gleichzeitig sind sie Darsteller sowie Kommentatoren ihres eigenen Spiels.
»Die Distanz, die uns ursprünglich schon voneinander trennt, vergrößern wir noch durch die provokante Art wie wir uns aufputzen, durch unsere Manieren und unsere Dreistigkeit. Denn wir sind alle auch Schauspieler!« Der kleine Prolog, vorgetragen von Schauspieler-Patient Eckehard Ide, wirkt ebenso spitzbübisch wie irritierend – auch wenn man nicht weiß, dass Téllez sich hier ein weiteres Zitat angeeignet hat, in diesem Falle aus Jean Genets »Die Neger«. In Zwischeneinstellungen sitzen die mitwirkenden Patienten verstreut in einem Kinosaal, als Zuschauer der eigenen Darstellung. Film ab. Aber wo ist drinnen, wo draußen? Und wenn »der ganze Stern eine Psychiatrie« ist, wie Cesare auf eine schwarze Schiefertafel schreibt, also ein einziges großes Wahngebilde, was ist dann normal?
Die Sprache der Ausgeschlossenen
»Der Wahnsinn ist die Sprache der Ausgeschlossenen«, so brachte Javier Téllez sein Interesse an den subjektiven Wahrnehmungsweisen der »psychisch Kranken« einmal auf den Punkt. Identitätswechsel, Mehrstimmigkeit, die Inkohärenz von Zeit und Ort – für sie sind dies reale (und im Alltag problematische) Erfahrungen, aber es sind eben auch künstlerische Ausdrucksweisen. Der gemeinsame Arbeitsprozess gleicht einer Sprachfindung, die in der Lage ist, verschiedene Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen zu vermitteln – die des Künstlers mit denen der Patienten, »ihre« und »unsere«.
»Caligari« ist das jüngste in einer Reihe ähnlicher Projekte, die in den letzten 15 Jahren entstanden und seit Ende der 90er auf internationalen Biennalen (Venedig, Sidney, Whitney Biennial) gezeigt wurden. Prägend, so Téllez, war seine Biografie: Der 1969 in Venezuela geborene Sohn zweier Psychiater wuchs mit der Erfahrung auf, dass der Umgang mit »Geisteskranken« zum Alltag gehört. Und er begleitete seinen Vater zu Patienten in die psychiatrische Klinik – jenen ominösen Ort, wo die sich als »gesund« definierende Gesellschaft »das Andere« wegschließt.
Die Mauern der Psychiatrie definieren auch diejenigen draußen
»Die Institutionen einer Gesellschaft spiegeln sich in der Psychiatrie, die Macht und Ausschluss demonstriert«, so Téllez. Sein Werk knüpft an den Diskurs um diese ambivalente Errungenschaft der Moderne an. Die Mauern der Psychiatrie – oder des Museums – definieren nicht nur diejenigen drinnen, sondern auch die draußen. Wenn Téllez die soziale Ordnung in seinen Filmen sichtbar macht, umkehrt, parodiert, wirkt das wie Institutionskritik. Doch er will sie nicht abschaffen, sondern öffnen. Auf Augenhöhe kollaborieren. Die Projekte werden mit den Patienten zusammen entwickelt, vom Drehbuch bis zur Requisite. Keine Missverständnisse: Es geht Téllez weder um Gleichmacherei noch um die Stilisierung des Wahnsinns als »höhere Wahrheit«, bessere Kreativität oder genialen Trip. Eher um einen – oft sehr komischen – Spiegel für die da »draußen«. Ob seine Filme Therapie für die Mitwirkenden seien? Möglicherweise, antwortete er in einem Interview, aber vielleicht so: Sie seien eher therapeutisch für die Besucher des Museums als für die Patienten.
Vom Umgang mit Kunstgeschichte
Dass Téllez immer wieder bedeutende Werke für ein »Reenactment« wählt, zielt auf eine kritische Revision der Kulturgeschichte, um die sich auch andere Künstler bemühen. Der Avantgardefilm »La Passion de Jeanne d’Arc« erfuhr durch Téllez eine ebenso überzeugende Bearbeitung wie Diderots »Letter on the Blind For the Use of Those Who See« oder Sophokles’ Tragödie in dem in Colorado gedrehten Westernszario »Oedipus Marshall«.
»Caligari« nun, entstanden für die Ausstellung »Rational/Irrational« im Berliner Haus der Kulturen der Welt, referiert auf ein Werk der frühen Filmgeschichte und auf das in seiner Entstehungszeit virulente Interesse am Unbewussten. Als Drehort diente der von Erich Mendelsohn gebaute Einsteinturm in Potsdam, eine Ikone der expressionistischen Architektur aus der gleichen Epoche, die sich als ideales Set für Téllez Vorhaben erweist. Er selber gleicht der Architektur eines Traums. Womit sich einmal mehr die Frage stellt, auf welcher Seite der Realität wir uns eigentlich befinden.
»Caligari und der Schlafwandler«,
16 mm s/w, 27 min, 2008
Der Film ist bis 21.3., ergänzt von einigen Installationen, in der Figge von Rosen Galerie zu sehen, Aachener Str. 65,
Di-Fr 11-18, Sa 12-17 Uhr