Der Verlust von etwas, was man nie besessen hat
Wie vielen in dieser Stadt war bewusst, dass es ein Historisches Stadtarchiv gegeben hat und dass dieses Archiv Schätze von nicht bezifferbarem Wert aufbewahrte? Wie viele wussten, wo dieses Archiv seinen Sitz hatte? Wie viele hatten es aufgesucht, um sich zu informieren und zu forschen? Wenige, sehr wenige, eine kaum messbare Minderheit.
Dass das so gewesen ist, hat wenig mit der Ignoranz der Kölner und viel mit dem Wesen des Archivs zu tun. Ein Archiv, das ist vielleicht der eigentümlichste Ort der modernen Öffentlichkeit. Archive stellen – unter bestimmten Voraussetzungen wie Sperrfristen, Schutz der Artefakte etc. – Material bereit. Nicht mehr, nicht weniger. Es bedarf einiger Mühen, dieses Material zu bergen – es zu finden, auszuwerten und schließlich so aufzubereiten, dass es für die eigentliche Öffentlichkeit lesbar ist.
Würde man die Leute fragen, wo sich die wichtigsten Archive der Welt befinden, man würde Achselzucken ernten, aber jeder, der an gesellschaftlichen Debatten interessiert ist, bezieht sich auf archivarische Funde. Die Dimensionen der Nazi-Verbrechen; die inneren Mechanismen der Herrschaft Stalins; der Zusammenbruch der DDR: Alle Aufsehen erregenden Forschungen basieren auf Archivauswertungen. Dass der Zugang zu Archiven massiv beschränkt wird, kennt man eigentlich nur aus totalitären Regimes.
Dabei sind die Archive selbst nahezu völlig neutrale Orte, das unterscheidet sie von verwandten Speichern: der Bibliothek und der Sammlung. Eine Bibliothek präsentiert bereits geronnenes Wissen (Bücher, Zeitungen, Tonträger, Filme) – folgt also logisch gesehen auf das Archiv. Die Sammlung selbst ist kein Ort der Öffentlichkeit (auch wenn sie öffentlich ausgestellt werden kann), sondern unter den Prämissen von Geschmack und Neigung – mithin: privat entstanden.
Eben weil ein Archiv neutral ist und – wie das Kölner – meistens auch äußerlich schmucklos daher kommt, wird seine Rolle in der Entstehung von historischen oder politischen Auseinandersetzungen vergessen. Beim Reden denkt man ja auch nicht ans Atemholen. Umso größer der Schock, wenn man nicht mehr Atemholen kann.
Viel war davon die Rede, dass Köln sein Gedächtnis verloren habe; ja, dass der Verlust bestimmter Dokumente dermaßen unermesslich sei, dass die ganze Republik eines Teils ihres Gedächtnisses beraubt sei. Nun kann man mal den Barbaren spielen: Nach dem Einsturz sieht man Fernsehfeatures, in denen leicht weltfremd wirkende Mediävisten den Verlust irgendwelcher Urkunden beklagen.
Man liest, zum Beispiel in der StadtRevue, dass sehr viele Zeugnisse aus dem Jahr »1968« und den sozialen Kämpfen in der Folgezeit verschüttet sind. Man erfährt weiter, dass der gerade erst abschließend übergebene Nachlass Heinrich Bölls futsch ist. Und man ertappt sich bei den Gedanken: Das ist alles weit weg, abgehakt, im Grunde schon erforscht, das hat sich alles gesetzt.
Und dass junge Menschen in der Schule mit Böll-Romanen traktiert werden – das würde nicht mal dann aufhören, verschwände ganz Köln in einem U-Bahn-Tunnel. Diese unfreundlichen Gedanken entspringen nicht der boshaften Natur des Denkenden, sondern verweisen einmal mehr auf die eigentümliche Verfassung der Archivs: Es beherbergt Dokumente, die von vergangenen, eben: historischen Ereignissen erzählen; es gibt die Akten frei, deren Sperrfrist abgelaufen ist, weil keine Personen des Zeitgeschehens mehr unmittelbar betroffen sind.
Um auf »1968« zurückzukommen: Erst wenn die Revolte verblasst ist, eignet sie sich fürs Archiv. Kein Revolutionär kann ernsthaft daran interessiert sein, dass seine Pamphlete und seine Marschbefehle irgendwann zu Archivmaterialien sedimentieren.
Wenn man nach dem gesellschaftlichen Verlust fragt, der durch das buchstäbliche Verschwinden des Kölner Archivs eingetreten ist, dann macht man es sich mit der Rede vom Gedächtnisverlust zu einfach.
Es ist vielmehr ein Imaginationsverlust und ein Verschwinden der Gegenwart. Denn die Kunst des Historikers besteht darin, die Funde so zu kombinieren, dass sie nicht die Vergangenheit 1:1 abbilden (sowieso unmöglich), sondern unsere Debatte über die jeweilige Vergangenheit formen und damit unser aktuelles Bild von der Gesellschaft.
Es ist zum Beispiel völlig offensichtlich – und die Debatten der letzten Jahre haben das demonstriert –, was die ausgewerteten Dokumente über die alltägliche, permanente Beteiligung weiter Teile der deutschen Bevölkerung an der Mordmaschine der Nazis noch für unsere Gegenwart bedeuten.
Somit wird klar, was der Untergang der Stadtarchivs anzeigt: Es ist der Verlust von etwas, das man nie besessen hat. Das man sich aber immer wieder anzueignen hat, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft in Angriff zu nehmen. Unabhängig davon, wie durchschnittlich Böll als Schriftsteller tatsächlich gewesen ist: Hätte sich in zwanzig Jahren ein Forscher an die Auswertung des Nachlasses gemacht, es hätte etwas über seine Zeit ausgesagt.
Nun ist nicht einfach ein Verlust eingetreten (zufällig lag unter dem Archiv eine ungeborgene Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg; zufällig ging sie am 3. März in die Luft). Stattdessen resultiert der Verlust aus einer, seien wir höflich: schamlosen Schlamperei von Verwaltung, Politik und den von ihnen beauftragten Firmen.
Wahrscheinlich kommen Fritz Schramma und der politisch-unternehmerische Komplex von Jürgen Roters bis zu den Sachverständigen der KVB deshalb nicht dazu, quasi heldenhaft die Verantwortung zu übernehmen, weil sie ihr Unglück gar nicht fassen können.
Denn ihr Vorgehen hat eine der schönsten Illusionen der Gesellschaft nachhaltig beschädigt: Es gibt in Wirklichkeit keinen neutralen Ort, kein Reservat der fröhlichen Wissenschaft. »Neutral« ist das Archiv nur soweit, wie es das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft erlaubt.
Ein Kollege, der selbst jahrelangen Umgang mit der Aufbereitung von Hinterlassenschaften linker Gruppen hat, meinte auf die Nachricht, dass das legendäre Kölnarchiv der linken Szene ebenfalls begraben worden sei, knapp: Man übergibt so was auch nicht dem Feind (einer Institution jener Stadt, deren Verfasstheit man jahrelang und aus guten Gründen bekämpft hat).
Das ist nicht nett gesagt. Aber es stimmt. Wenn wir selber unsere eigene Geschichte nicht aufheben, tut es keiner. Nein, nein, dieser Satz lautet in Köln ab jetzt und für alle Ewigkeit anders: Wenn wir selber unsere eigene Geschichte nicht aufheben, vertrauen wir sie Leuten an, deren Haus irgendwann einfach so zusammenklappen wird. Weil irgendjemand beschlossen hat, doch noch eine U-Bahn zu bauen.