Was Überleben heißt
Ein junger Mann steht am Krankenbett seines Großvaters und versteckt sich hinter einer kleinen Kamera. Ob er ahnt, welches Geheimnis ihm der Sterbende gleich anvertrauen wird? »Deine Mutter war ein Engel«, sagt er dem Waisen, »und dein Vater hat sie umgebracht«.
Atom Egoyan zeigt uns nicht, wie Enkel Simon (Devon Bostick) auf diese Enthüllung reagiert, stattdessen sehen wir, wie er während einer Übersetzungsübung sein Blatt zerknüllt und noch einmal von vorn beginnt. In der nächsten Stunde trägt er der Klasse einen Aufsatz vor, berichtet mit stockender Stimme, dass er in der zu übersetzenden Zeitungsmeldung seine eigene Familiengeschichte erkannt hat und die ganze Wahrheit auf einmal über ihn hereinbrach: dass sein Vater ein arabischer Terrorist war, der seiner mit ihm schwangeren Mutter eine Bombe unterschob und sie in ein israelisches Flugzeug setzen wollte; dass er nur geboren wurde, weil dieser Anschlag in letzter Minute verhindert werden konnte, und er nicht weiß, wie er mit diesem Erbe umgehen soll.
Diese Geschichte zieht schnell ihre Kreise. Erst treffen sich Simons ergriffene Freunde im Chatroom ihrer Schule, von dort verbreitet sich die Kunde wie ein Lauffeuer übers Internet. Alle wollen mitreden und mitmoralisieren, wobei sich bald Insassen des vor Jahren bedrohten Flugzeugs mit derselben Selbstverständlichkeit auf Simons Computerbildschirm melden wie potenzielle Nachahmer des vereitelten Massenmords. Simon nimmt das alles mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis, spielt manchmal sogar den Anwalt seines Vaters und teilt wohl auch nicht unser Erschrecken, als eine Frau ihre jüdische Großmutter auffordert, aller Welt mit ihrer in den Unterarm tätowierten KZ-Nummer zu zeigen, was Überleben heißt.
Später wird Simons Lehrerin den entscheidenden Hinweis darauf geben, wie es so weit kommen konnte: Ihr Schüler sei einfach zu sehr in seiner Rolle aufgegangen und sich über die Konsequenzen nicht im Klaren gewesen. Ursprünglich war die Geschichte als Theatermonolog geplant, nahm dann ein Eigenleben an und geriet außer Kontrolle. So wird das Internet-Happening zur Hälfte des Films als riesiges soziales Experiment enttarnt – oder vielleicht sollte man besser sagen: möglicherweise enttarnt. Denn zu diesem Zeitpunkt hat Atom Egoyan die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit schon so sehr verwischt, dass auch dieser Schwindel nur ein weiterer Schwindel sein könnte.
Eine kleine Medienkunde des Erinnerns sind Egoyans Filme auch früher schon gewesen. In seinen ersten Arbeiten spielt die Videokamera eine wichtige Nebenrolle, und in seinem Historienfilm »Ararat« gehen Wahrheit und Erinnerung, Vergangenheit und Gegenwart in einer verschachtelten Film-im-Film-Konstruktion eine unauflösliche Verbindung ein. Auch in »Simons Geheimnis« sind Webcam und Internet vor allem Medien einer zweifelnden Selbstvergewisserung: Simon stellt seine Familiengeschichte zur Debatte, weil er nicht weiß, ob er seinem Großvater glauben kann.
So orientierungslos wie sein Held wirkt zunächst auch Atom Egoyans Film. Nichts passt zusammen, die Kamera springt scheinbar mutwillig zwischen Zeiten und Orten hin und her, aber das ist man von dem kanadischen Filmemacher gewohnt. Und natürlich wäre »Simons Geheimnis« kein richtiger Egoyan, wenn nicht schon bald ein Rädchen sanft ins andere greifen und das elegische Verlustmotiv in den Randfiguren gespiegelt würde. Nicht nur Simon trägt schwer am familiären Erbe, auch sein Onkel und seine Lehrerin sind davon nicht frei. Schließlich läuft das zunächst Unverbundene auf einen schicksalhaften Abend in der Vergangenheit hinaus. Gut möglich, dass Simons Vater wirklich der Mörder seiner Mutter ist, nur eben ganz anders, als es im Internet kursiert.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Atom Egoyan mit Filmen wie »Der Schätzer«, »Exotica« oder »Das süße Jenseits« ein Liebling der deutschen Programmkinos war. Er ist seinem Stil und seinen Motiven weitgehend treu geblieben. Er liebt es, seine Geschichten kunstvoll zu verrätseln, und ist zugleich ein Meister der allmählichen Enthüllung. Manchmal droht er dabei seine Figuren zwischen den Zeitebenen aus den Augen zu verlieren, doch wann immer Egoyan die Balance zwischen Verwirrspiel und Gefühlskino hält, ist das Ergebnis ein Triumph. In »Simons Geheimnis« wird man beinahe vom ersten Augenblick an hineingezogen und ist am Ende davon bezaubert, wie wundervoll einfach sich alles fügt.