Drachenbaby trifft Rheinpiraten

Südlich von Köln liegt das Arp Museum Bahnhof Rolandseck. Nach Skandal­geschichten und der Eröffnung eines spektakulären Neubaus versucht es einen Neustart – unter anderem mit einer Ausstellung des Querulanten ­Jonathan Meese. Amin Farzanefar fuhr mit dem Zug vor.

Ein Besuch in Rolandseck – hinter Bad Godesberg, vor Remagen – verspricht ein sonderbares Programm auf der Schneide zwischen Naturerfahrung und Kunsterlebnis. Schon in Rheinland-Pfalz, aber noch am Südende der Kölner Bucht gelegen, war die Region historisch permanentes Einfallsgebiet der Domstädter. Dabei hatte diese sagenträchtige Ecke bereits im 19. Jahrhundert etwas Museales – schon früh feilte man hier am eigenen Mythos. So erstand 1836 die preußische Regierung den Drachenfels für 10.000 Taler, um die Naturkulisse mit Burgruine zu erhalten, bis dahin hatte der Vulkandom als Steinbruch für den Kölner Dom herhalten müssen.

Von Köln aus erreicht man nach vierzigminütiger Zugfahrt den historischen Bahnhof Rolandseck, eine Talstation. Wer nun hinauseilt, um das Arp-Museum zu suchen, der irrt – er befindet sich bereits darin: Vom Bahnsteig kann man durch die Fenster Miniatur­objekte der Ausstellung »Modellstück« sehen, die sinnigerweise das Verhältnis zwischen Natur und Nachbau zum Thema hat. Läuft man einmal um das Gebäude herum, findet man eine Etage tiefer die an Wochenenden heftig umlagerte Kasse. Nach einem langen Eröffnungsgang wartet um die Ecke die neueste Attraktion des Museums: Die in einen weißen Kubus – die so genannte »Kunstkammer« – eingelagerte »Sammlung Gustav Rau«. Der Ökonom, Arzt und Sammler stiftete der UNICEF 800 Exponate, von denen 240 Stücke bis 2026 ausgestellt werden. »Tiepolo und das Antlitz Italiens« versammelt zum Auftakt dreißig Werke von der Renaissance bis zur frühen Moderne, eine imposante Zusammenstellung alter Meister: Fra Angelico, Pietro Lunghi, Canaletto, einen Zyklus von Grandomencio Tiepolo. Vor allem beeindruckt Guido Reni, dessen Kreuzigungsbild in einer römischen Kirche es gerade bis in die Feuilletons geschafft hat: Sein »David, Goliath enthauptend« ist ein nüchternes, vor der schieren Gewalt kapitulierendes Ölgemälde. Michelangelo Cerquozzis saftiges »Stilleben mit Trauben, Quitten und Granatäpfeln« hingegen macht Lust auf eine Maibowle auf der Terrasse des Museumsrestaurants. Wenige Schritte weiter jedoch beginnt eine abenteuerliche Reise, die den Besucher in mythologische Tiefen führt.

Das klassizistische Gebäude erweist sich im Inneren als weitläufige, verschachtelte Konstruktion mit Zwischenetagen, schmalen Fensterschlitzen und Glasfronten, die überraschende Blicke auf Außenexponate öffnen. Während man den mit einer Reihe leuchtender Neonringe behängten Durchgangstunnel passiert, quengelt eine dünne Stimme: »Die Diktatur der Kunst hat immer recht«. Soeben hat man den »Erzstaat Atlantisis« des Querulanten-Künstlers Jonathan Meese betreten. Über einen vierzig Meter hohen Aufzugschacht erreicht man – wahlweise per Treppe oder Lift – den oben auf dem Hügel gelegenen, strahlend weißen Richard-Meier-Bau, den moderneren Museums-Trakt. Den Schacht, dessen Boden eine »Kernfamilie« aus zwei großen und einem winzigen Skelett bedeckt, hat Meese als »Vulkanische Druckkammer« konzipiert, die mit den Besuchern auch das »absolute Neue« nach oben treiben und lavagleich hervorschleudern soll. Auch diese Metapher kommuniziert und verschmilzt mit Lage, Geschichte und Mythologie des Ortes: der mit Vulkanen und Kratern gespickten Region des Siebengebirges.

Oben ausgespieen, wird man von einer wüsten, an Hollywood-Kapitän Jack Sparrow erinnernden mannsgroßen Skulptur empfangen und betritt die Retrospektive des bildhauerischen Werkes von Meese mit 53 Plastiken. Die Bronzeguß-Monstren, auf mehreren schneckenförmigen Rampen, begehbaren Bühnen und Podesten angeordnet, verströmen den Schrecken der Alien-Figuren eines H.R. Giger. Einer fast panisch diese Ausstellung verlassenden Besucherin entgeht das Vergnügen, zusammen mit den verspielten Details auch die Harmlosigkeit dieses Bestiariums zu erfahren. Zwischen Golem, Krake und Sternenkrieger erinnern die Unholde an Figuren aus Filmkulissen: »Pirates of the Carribean« ist offenkundig ein sich durch das Oeuvre ziehendes Leitmotiv, ein Wesen trägt unverkennbar das Molluskengesicht des verdammten Davy Jones. Neben einem Dreispitz tragenden »Alten Fritz« sieht man durchs Fenster auf einer Außenfläche »Doc flashflesh – Feurrrotes Erzdrachenbaby« – Siegfrieds Lindwurm hat sich offensichtlich vom Drachenfels in Museumsnähe verirrt.

So wabert am zentralen Schauplatz der Nibelungensaga ein vielstimmiges anarchisch­es Gebräu aus Popkultur, faschistoiden Posen, Agitprop und Dadaismus, das sich auf großflächigen Wandgemälden fortsetzt und auf die Gebäudewände selber übergreift: Ein Graffito ruft dort »Babyatlantisis« an. Die auf unterschiedlichen Ebenen platzierten, teils vom Betrachter abgewandten Kreaturen sind verwirrend. Eine strenge Dame herrscht ihre Begleiterin an: »Mutter! Wie kann denn hier vorne sein, wenn das Schild auf der anderen Seite steht!«

In luftiger Höhe also liegt »Atlantisis«: Platons Phantasie einer perfekten Parallelwelt wird bei Meese zum totalen Gegenentwurf aller Sinnfindungsversuche. Zu peinlich um auratisch zu wirken, zu engagiert um kalt zu lassen. Aber es geht noch höher hinauf im »Arp Musem Bahnhof Rolandseck«: eine Treppe führt zur namengebenden Sammlung von Skulpturen, Zeichnungen, Collagen, Fotografien und Texten des Hans Arp. Hier scheint die kochende Lava, der erzene Brei zu klaren Formen ausgehärtet: Nach dem Wolkenkuckucksheim herrscht hier in der Beletage eindeutige Erdung, statt der Verschwendungssucht des oralen Infanten Meese regiert das Maßhalten des morphischen Meisters Arp – eine Jahrhundertfigur, die über zwei Weltkriege hinweg auf Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus einwirkte.

Ein Trupp Jungvolk in Adidas befragt das Museumspersonal: »Lebt der Arp denn noch?« – »Nein, der ist tot.« – »Wo kam der denn her?« – »Äh, aus der Schweiz glaube ich ... ja, aus der Schweiz«. Die ausgestellten Skulpturen des Deutsch-Franzosen jedenfalls scheinen zu leben: schwellende embryonale Torsi, nicht gegenständlich, aber dennoch organisch. »Im Walde auszusetzen« heißt eine Arbeit, das passt gleich mehrfach: Inmitten der Ausstellung hockt ein Kinderkurs. Sie haben im Wald Blätter gesammelt, sie auf Papier gepaust und vergleichen diese Naturfunde jetzt mit Arps »Amorphen«. »Das sieht aus wie Kaka« meint ein kleiner Kritiker. Den Meister hätte der Vergleich gefreut: Er pflegte einen legeren Umgang mit dem Werkbegriff, mit Urheber- und Autorschaft, und überließ die handwerkliche Ausführung seiner Entwürfe Schülern und Assistenten. Die Arp-Stiftung hatte dieses Prinzip auf unlautere Weise überstrapaziert und für einen Skandal gesorgt: Die Frage, ob einige Originale nur Abgüsse seien, andere verkauft wurden, die Deklarationen irreführend waren, beschäftigte Feuilletonisten und Anwaltskanzleien. Man organisierte das Haus neu, und versucht nun eifrig, weitere Kunstwerke und Besucher in das repräsentative Provinzmuseum zu locken.

Zurück am Rhein bringt einen die Fähre auf Wunsch noch für fünfzig Cent hinüber nach Bad Honnef, zusammen mit Heerscharen niederländischer und Eifeler Fahrradtouristen. Über eine kleine Brücke erreicht man Grafenwerth, eine der beiden Rhein­inseln. Vom Biergarten auf der Nordseite der Insel aus sieht man – im Rhein vertäut, einem Piratenschiff verflucht ähnelnd – die Aranka, den letzten Aalschokker des Rheins. Dahinter ragt der Drachenfels, Europas meistbestiegener Berg, mit Nibelungenhalle, Reptilienzoo, Märchenpark, Eselsweg und Seilbahn. Auf der anderen Seite steht der Rolandsbogen, letzter Überrest der Burg Rolandseck, auch er übrigens ein Kunstprodukt: Als die Ruine 1839 einstürzte, sicherte der Dichter und Märchenfreund Ferdinand Freiligrath durch einen Spendenaufruf in der Kölnischen Zeitung die Restauration. Unterstützt wurde der Ruinenromantiker vom damaligen Kölner Dombaumeister.

Arp Museum Bahnhof Rolandseck
Hans-Arp-Allee 1, 53424 Remagen,
Di-So und feiertags 11-18 Uhr.
Konzert- und Lesungsprogramm: www.arpmuseum.org
Ausstellungen
Modellstück: Werke von Hans-Jörg Georgi, Stefan Häfner, Reinhard Mucha, Tobias Rehberger, Peter Sauerer, Ernst Stark, bis 16.8.
Jonathan Meese: Erzstaat Atlantisis, bis 30.8.
Kunstkammer Rau:
Tiepolo und das Antlitz Italiens, bis 22.11.