Trautes Heim, Glück allein

Ode an die eigenen vier Wände: »Home« von Ursula Meier

Für die fünfköpfige Familie in Ursula Meiers Spielfilmdebüt ist die ganze Woche autofreier Sonntag. Sie bewohnt ein Haus gleich neben einem Autobahnabschnitt, der aus unerfindlichen Gründen seit zehn Jahren seiner Eröffnung harrt. So weit das Auge reicht, ist nichts als Straße und Landschaft zu sehen. Einmal täglich verirrt sich der Briefträger hierher, der Vater stellt den Wagen gleich hinter der Leitplanke ab und abends wird der Asphalt zum Hockeyfeld. Im Grunde ist alles, wie man es aus alten Filmen kennt: Der Ernährer fährt zur Arbeit, die Kinder gehen zur Schule und die Mutter sammelt abwechselnd bunte und weiße Wäsche ein. Gleichzeitig gedeiht da eine offensichtlich ziemlich schräge Idylle am Rand der sozialen Ordnung, und weil dazu ständig die Sonne scheint, denkt man unweigerlich an einen kurzen Sommer der gebremsten Anarchie.
»Home« lässt sich alle Zeit der Welt, um die Marotten der namenlosen Familie einzufangen. Während sich der gemütliche Vater im Gefühl sonnt, alles richtig gemacht zu haben, führt die Mutter den Haushalt mit energischer Nachlässigkeit; die älteste Tochter braucht zum Leben nichts als Kopfhörer und Bikini und der 10-jährige Sohn kann sich ­ohnehin nichts anderes vorstellen. Das Provisorium ist längst zur ­Selbstverständlichkeit geworden: Trautes Heim, Glück allein. Dann taucht am Horizont ein Bautrupp auf und lässt die heile Welt buchstäblich in ihren Grundfesten ­erbeben. Im Radio wird die lang aufgeschobene Eröffnung angekündigt, dann erobert die Blechlawine donnernd den Asphalt zurück. Am Anfang versucht sich die Familie noch mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren und gräbt sich trotzig in ihrer verlorenen Idylle ein. Das geht nicht lange gut, und so entfaltet sich nach und nach das ganze absurde Potenzial des Films.
Weil Meier das alles betont undramatisch erzählt, wurde sie schon mit dem französischen Komiker und Regisseur Jacques Tati verglichen, der in »Trafic« die automobile Zerstörung unserer Lebenswelt ähnlich lakonisch inszenierte. Und in Ursula Meiers schweizerischer Heimat gilt die gezeigte familiäre Bunkermentalität als listiger Seitenhieb auf den Schweizer Sonderweg. Beides stimmt, trotzdem wäre der Film ohne seine Darsteller nur die Hälfte wert. Wie Isabelle Huppert und Olivier Gourmet ihren etwas karikaturhaft geratenen Figuren erst komisches Leben und dann berührende Tragik einhauchen, ist unbedingt sehenswert, und macht auch den einen oder anderen forcierten Einfall wett.
Michael Kohler

Home (dto) CH/F/B 08, R: Ursula Meier,
D: Isabelle Huppert, Olivier Gourmet, ­Adélaïde Leroux, 97 Min. Start 25.6.