Die Stadt der Zukunft

Brasília als Planstadt der politi­schen

und kulturellen Elite: Gabriel Dorfman und ­Emilia Stenzel über das mondäne Zentrum

und das Elend in den Trabantenstädten.

Beim ersten Besuch wirkt es wie eine fremde Welt – egal ob man aus dem Ausland oder aus Brasilien anreist. Wahrscheinlich ist der Eindruck der Verfremdung bei den Brasilianern sogar noch stärker, denn wo sonst gibt es hier so eine geordnete und verhältnismäßig saubere Stadt, in der man praktisch nur fahrende Autos, Grünanlagen und ähnlich aussehende Häuser wahrnimmt?

Man braucht ein paar Stunden, um den Schock des ersten Eindrucks zu überwinden. Ob es richtig gelingt, ist ungewiss. Wo sind die »normalen« Menschen, die ein »normales« Leben führen? Gibt es überhaupt Raum für sie in Brasília, oder besteht diese Stadt nur aus in dunklen Anzügen gekleideten und in schwarzen Autos hin und her chauffierten Beamten und Politikern, die zur allgemein verbreiteten Vorstellung »Brasília = Korrup­tion« entscheidend beigetragen haben?

Die Stadt als Park

Vor fünfzig Jahren erbaut, wurde Brasília nach Salvador (1549 bis 1763) und Rio de Janeiro (1763 bis 1960) die dritte Hauptstadt eines Landes, das die Sklaverei erst 72 Jahre zuvor abgeschafft hatte und sich neu erfinden wollte: als modern und aufgeklärt. Eines Landes, das mit seiner Vergangenheit als portugiesische Kolonie (1500 bis 1822) radi­kal brechen und nur auf die Zukunft blicken wollte. So wurde dem Architekten und Stadtplaner Lúcio Costa 1957 die Aufgabe erteilt, Brasília als Aushängeschild dieses Musterlandes zu bauen, und zwar inmitten vom Nichts. Dort, wo es bis dato nur Savanne und Rinder-Farmen gab.
Um den hohen Erwartungen der politischen und kulturellen Elite, der er selbst angehörte, Rechnung zu tragen, wandte Costa Prinzipien an, die jede Spur einer traditionellen Stadt tilgen sollten: weg mit der Verschachtelung des Stadtgewebes und den engen Straßen und Gassen, her mit großzügigen Abständen zwischen Wohnhäusern, ausgefüllt mit Grünanlagen. Her mit der Stadt als Park – einem lange gehegten und nie verwirklichten Traum des modernen Städtebaus.

Die enge Verknüpfung zwischen der Konzipierung Brasílias und den Zukunftsvisionen des Landes, welche mit dem damaligen Brasilien nicht viel gemeinsam hatte, führte zur Abstempelung vom Brasília-Projekt als »utopisch«. Das jedoch trifft rein begriffsmäßig nicht zu. Denn trotz ungewisser Zukunft war das Wunschbild vom modernen Brasilien nicht als Traum, sondern als Plan erdacht – als ein zwar anspruchsvolles, aber machbares Vorhaben, das den Prozess der Konstruktion eines neuen Topos auf fester Erde in Gang setzen sollte.

Das einst staubige Kaff hat große ­Bedeutung gewonnen

Dennoch ist es der am 21. April 1960 als noch unvollendetem Torso eingeweihten Hauptstadt nie gelungen, sich von der Bezeich­nung »utopisch« ganz zu befreien, obwohl sie inzwischen zu einem festen Teil Brasiliens ­geworden ist. Das einst staubige Kaff hat in seiner fast 50-jährigen Geschichte große ­Bedeutung innerhalb des Landes erlangt – als Einwanderungsmagnet und als Faktor der Wirt­schaftsdynamisierung.

Heute zählt die Metropole Brasília über drei Millionen Einwohner, von denen allerdings weniger als zehn Prozent im Stadtkern leben. Die Verschärfung der Kluft zwischen Arm und Reich, welche die Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts tief geprägt hat, zeigt sich auch hier. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Gehälter der Regierungs­beamten wurde Brasília zur Stadt mit dem höchsten Durchschnittseinkommens des Lan­des, was die Immobilienpreise in die Höhe der vornehmsten Lagen von Rio und São Paulo getrieben hat. Wohnen im Zentrum wurde für die meisten unerschwinglich.

Im starken Kontrast zu den hohen Lebensstandards in der Kernstadt stehen die ständig wachsenden Trabantenstädte: Elend und Kriminalität breiten sich unkontrollierbar aus – die Vororte Brasílias zählen zu den gefährlichsten des Landes, der Alltag wird durch Drogenhandel und Bandenkriege bestimmt. Im Laufe der Zeit wurde Brasília zum Magnet für Menschen, die unter erbärmlichen Bedingungen ums tägliche Überleben kämpfen müssen: ein schlechtes Bildungs- und Gesund­heitssystem, fehlende Kultureinrichtungen, prekäre Verkehrsmitteln, schlecht bezahlte Arbeitsmöglichkeiten.

Was bleibt von Brasília als einmaligem Versuch der allumfassenden Anwendung von Prinzipien des modernen Städtebaus im 20. Jahrhundert im Vergleich mit anderen brasilianischen Großstädten? Was hat die Stadt ihren Einwohnern zu bieten und zuzumuten, was sonst in keiner anderen brasilianischen Stadt zu finden ist?

Am Wochenende sind ganze Stadtteile ausgestorben

Unter den Problemen, mit denen die Einwohner Brasílias kämpfen, und die dem modernistischen Stadtplan zuzuschreiben sind, besetzt die strenge Trennung zwischen Arbeits- und Wohngebieten eine dominierende Stelle. Kombiniert mit dem rasanten Zuwachs der Autos und dem schlechten öffentlichen Verkehrssystem, macht sie den Einwohnern zu schaffen: Zumindest zweimal am Tag stehen die Brasilienses im Stau. Wegen der strikten Trennung von Arbeits- und Wohn­gebieten wird die Verkehrsstruktur ungleichmäßig benutzt, und ganze Stadtteile sind an den Wochenenden wie ausgestorben. Welch Ironie, dass ausgerechnet die Stadt, die laut ihrem Schöpfer Lúcio Costa auf Basis der »modernsten Verkehrstechnik« geplant worden ist, unter der gleichen Autoflut versinkt, die auch in den anderen Großstädten des Landes Alltag ist.

Auch das Fehlen eines richtigen Zentrums steht ganz oben auf der Liste der städtebaulichen Mängel: Riesenabstände zwischen den 20-stöckigen Häusern und kaum begehbare Fußwege ohne Schatten sind dort zu finden, wo sich die gigantischen Verkehrsachsen, die die Stadt strukturieren, überschneiden, und vier voneinander abgetrennte Stadteile entstehen lassen. Hierunter leiden insbesondere Touristen und Neulinge, denn genau in diesem nichtexistenten Zentrum, in dem jedes Anzeichen von Stadtkultur fehlt, liegt der Hotelsektor.

Ungehinderter Blick in alle Richtungen

Was sind die positiven Aspekte? Als erstes die Lebensqualität in den superquadras, jenen Wohnensembles mit ihren strukturierenden Grünanlagen und der öffentlichen Aneignung des Stadtbodens. Die Fußgänger erleben hier eine Bewegungsfreiheit, die unmöglich ist in der traditionellen, verschachtelten Stadt. Die auf Pfeilern (pilotis) gebauten Häuser ermöglichen zudem einen ungehinderten Blick in alle Richtungen, bis hin auf die sanften Hügel, die an die Stadt angrenzen. Wenn sich diese einmalige Art der Wahrnehmung vom Stadtraum und dessen Verhältnis zur umliegenden Landschaft durch das Verständnis der Bedeutung der Stadt als kollektives Gut verstärkt, dann ist man in der Lage, eine Erfahrung zu machen, die keine traditionelle Stadt bieten kann.

Diese bereichernde Erfahrung kann man gerade dort machen, wo sich das tägliche Leben der Menschen abspielt. Entfernt von den Einrichtungen der Macht und Politik, entfernt von jenen Exemplaren der erstklassigen Architektur Oscar Niemeyers, welche der Stadt zu Weltberühmtheit verholfen haben. Um dem Neuankommenden zur möglichst schnellen Überwindung des ersten Schocks zu verhelfen, muss man ihn zu den dicht an einigen superquadras stehenden Lokalen führen: Dort wird er Menschen treffen, die wie überall in Brasilien unter freiem Himmel sitzen und über Fußball und den letzten politischen Skandal plaudern.

Brasília steht für die Möglichkeit einer ästhetisch anspruchsvollen Stadtlandschaft jenseits von Werbung und Konsum

Das Beste ist also auf und um die superquadras zu finden: Ganz oben steht ihre Landschaft, die durch Bäume und Leere beherrscht wird – die Leere eben, die dank des milden Klimas das ganze Jahr über lebendig wird durch die freie Bewegung der spielenden Kinder, der joggenden Erwachsenen und der dort spazierenden Greise. Weder billboards noch Schaufenster, stattdessen Bäume und Raum: Brasília steht für die Möglichkeit einer ästhetisch anspruchsvollen Stadtlandschaft jenseits von Werbung und Konsum.

Diese positiven Merkmale zeigen: Brasília ist keine Utopie. Erstens, weil es sowieso nie als Modell einer radikal neuen Gesellschaft erdacht wurde, und zweitens weil es von den in Brasilien herrschenden Sozialverhältnissen nicht abgeschottet bleiben kann. Keine Utopie also, vielmehr eine Hetero­topie, eine Alternative zur Fehlentwicklung der sonstigen Städte Brasiliens, in denen Architektur, Umwelt und jegliche Sorge um Lebensqualität der alleinherrschenden Logik von Profitgier täglich geopfert werden. In einem Land, wo Stadt und Kultur nicht zur Versöhnung mit der Natur gefunden haben, steht Brasília immer noch als Vorbild einer anderen, sowohl natur- als auch menschenfreundlicheren Art der Stadtgestaltung.

Die Autoren:
Emilia Stenzel, geb. 1955 in Osorio (Brasilien),
1983 Architektur-Studium in Porto Alegre, 2003 Master
in Architektur in Brasília; seit 2000 Professorin für ­Entwerfen und Architekturgeschichte am Centro de Ensino Universitario de Brasília.

Gabriel Dorfman, geb. 1957 in Passo Fundo (Brasilien), 1983 Architektur-Studium in Porto Alegre, 1989 Master in Ingenieurwissenschaften in Porto Alegre, 1997 Dr.-Ing. an der TU Berlin; seit 1997 Professor für Architekturgeschichte an der Universidade de Brasília.
Von Ende 1989 bis März 1997 lebte das Ehepaar in Deutschland, seit 1997 in Brasília.