Wiederbelebungsversuch
»Das ist der einzige Computer der Universität. Baujahr 1988«, kommentiert Professor Clas Naumann, Leiter des naturkundlichen Museums Koenig in Bonn, eines der Fotos auf seinem Bildschirm. Die Bilder zeigen den aktuellen Zustand der Universität Kabul. Aufgenommen hat Naumann sie bei einem Besuch im März – für ihn der erste seit 26 Jahren. In den 70ern lehrte er an der Kabuler Uni Zoologie und war maßgeblich am Aufbau des dort ansässigen zoologischen Museums beteiligt. Als Mitglied einer Komission des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) kehrte er jetzt nach Afghanistan zurück. Das Auswärtige Amt hatte die Komission beauftragt, die Hilfsmaßnahmen im Bereich der höheren Bildung zu koordinieren. Eine Bestandsaufnahme der Situation an der Universität Kabul, Gespräche mit dem Lehrpersonal sowie den zuständigen Ministern der afghanischen Übergangsregierung waren nur einige der Programmpunkte des einwöchigen Aufenthalts. Im Vordergrund stand die Wiederaufnahme der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen einzelnen Fakultäten der Universitäten Bonn, Köln und Kabul, die seit dem Einmarsch der Sowjets im Jahr 1979 nur noch auf dem Papier bestehen.
Die Hochschulen arbeiteten seit 1962 eng zusammen – in Bonn mit den Naturwissenschaften und in Köln mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. »Ziel war die Anhebung der Kabuler Fakultät auf internationales Niveau«, so der Kölner Partnerschaftsvertrag. Junge deutsche Dozenten erhielten Lehraufträge in Kabul und afghanische Wissenschaftler wurden in Deutschland ausgebildet – mit der Aussicht, später als Dozenten oder Fachkräfte nach Afghanistan zurückzukehren. Viele blieben jedoch wegen der politischen Situation im eigenen Land in Deutschland. So auch der jetzige Entwicklungsminister der afghanischen Übergangsregierung, Amin Fahrhang, der an der Kölner Wiso-Fakultät promovierte und in Bochum als Dozent für Wirtschaftswissenschaften tätig war.
Die Partnerschaften haben Tradition und sind eines der Aushängeschilder der, spätestens seit der Petersberg-Konferenz, wieder so oft beschworenen »freundschaftlichen deutsch-afghanischen Beziehungen«. Heute wie damals sind sie immer auch politisch motiviert. 1961 – ein Jahr vor dem Beginn der Unipartnerschaften – hatte der damals amtierende afghanische Ministerpräsident Daoud die deutsche Regierung bei einem Staatsbesuch um finanzielle Hilfe gebeten – unter anderem für den Aufbau der erst 1957 gegründeten Kabuler Wirtschaftsfakultät. Die Ausgangssituation ist mit der heutigen durchaus vergleichbar. Zumindest im Fall der Kölner Universität kam die Initiative für die Wiederaufnahme der Beziehungen zunächst von politischer Seite: Das Auswärtige Amt hatte den Rektor angesprochen und die Freigabe von finanziellen Mitteln signalisiert. Die Bundesregierung präsentiert sich dabei gerne als einer der neutralsten Partner unter den internationalen Geberländern. Immer wieder wird das große Vertrauen betont, das den Deutschen von afghanischer Seite entgegengebracht wird. Eine Tatsache, die sicherlich nicht falsch ist. Jedoch spricht man über die eigenen wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen in Afghanistan eher ungern.
Dabei laufen die Vorbereitungen für wirtschaftliche Investitionen für die Zeit nach dem Krieg bereits auf Hochtouren. Anfang des Jahres bereits reiste eine Abordnung der deutschen Wirtschaft, darunter Direktoren der Firmen Siemens, Daimler-Chrysler und ein Vorstandsmitglied der Hochtief AG, nach Afghanistan und führte Gespräche mit der Übergangsregierung. In Düsseldorf gründete sich im März die Afgha Consult GmbH, die insbesondere Investitionen deutscher mittelständischer Unternehmen in enger Zusammenarbeit mit der Bundesregierung koordinieren und fördern will. Die IHK Düsseldorf hat für den 16. Mai einen ausgewählten Kreis aus Wirtschaftsvertretern und Mitarbeitern verschiedener Bundesministerien und politischer Institutionen zu einer internen Informationsveranstaltung, »Geschäfts- und Investitionsmöglichkeiten in Afghanistan?«, geladen. »Deutschland ist führend bei den finanziellen Vorleistungen für das Land. Wirtschaftliche Interessen dabei außer Acht zu lassen wäre Heuchelei. Diesmal möchte man – anders als im Fall des Kosovo, wo auch jede Menge deutsche Steuergelder geflossen sind – einen Teil vom Kuchen abbekommen«, heißt es aus Wirtschaftskreisen.
Vor diesem Hintergrund betrachtet ist die Zusammenarbeit der Hochschulen sicherlich auch ein wichtiger Faktor, der die deutsch-afghanischen Beziehung stabilisiert – auch auf wirtschaftlicher Ebene, um etwa kompetente Fachkräfte vor Ort auszubilden oder Forschung zu ermöglichen.
Professor Naumann sieht seine Dozententätigkeit in Kabul rückblickend nicht nur als Aufbauhilfe, sondern betont, dass er persönlich ebenso von diesem Austausch profitiert habe: »Ich habe den Afghanen mehr zu verdanken, als ich dort zurücklassen konnte. Ohne meine Erfahrungen in Kabul hätte ich sicherlich nicht den Job, den ich heute mache. Die Auseindersetzung mit einer völlig anderen Kultur ist etwas, dass man natürlich in kein Curriculum hinein schreiben kann.« Die Reise im März war für ihn daher auch weit mehr als ein Geschäftstermin: »Eigentlich wusste ich genau, was mich erwarten würde, trotzdem war es erschreckend«, schildert er seine Eindrücke. Er fand die Trümmer des Hauses in dem er damals lebte, sein altes Arbeitszimmer in der Fakultät wurde notdürftig wieder hergerichtet, nachdem es durch einen Raketeneinschlag zerstört wurde, und vom zoologischen Museum steht nicht mehr als eine Ruine. Die meisten Zerstörungen stammen aus der Zeit des Bürgerkrieges zwischen 1992 und 1995, als der Unibetrieb völlig brach lag. Naumann traf auch Kollegen, mit denen er in den 70er Jahren zusammengearbeitet hatte. Sie haben in den letzten Jahren viele Regime kommen und gehen sehen, die alle auf ihre Art Einfluss auf den Unversitätsalltag hatten. So wurde etwa zu Zeiten der sowjetischen Besatzung die Forschung von der Lehre getrennt und fortan in der ausgelagerten Akademie geforscht – eine Struktur, die zum Teil bis heute besteht. Die Taliban stellten jeder Fakultät einen religiösen Rektor ohne fachliche Qualifizierung vor, der zwar keinen direkten Einfluss auf die Unterrichtsinhalte hatte, jedoch streng auf die Einhaltung religiöser Vorschriften und Rituale achtete. Die Zeit für Vorlesungen wurde dadurch deutlich eingeschränkt. Frauen wurden gänzlich vom Studium ausgeschlossen, während sie in den 70er Jahren in einzelnen Fächern mehr als die Hälfte der Studierenden ausmachten.
Nachdem der Unibetrieb in Kabul im September eingestellt wurde, laufen inzwischen Intensivkurse, in denen die fehlende Zeit aufgeholt werden soll. Zum ersten Mal seit fünf Jahren nehmen daran auch wieder Frauen teil. Im Januar gab es eine Aufnahmeprüfung für die insgesamt fünf afghanischen Universitäten, an der nach Schätzungen der Unesco 18.000 BewerberInnen teilnahmen. Etwa 5.000 von ihnen sollen so bald wie möglich ihr Studium in Kabul beginnen.
Die Voraussetzungen sind jedoch denkbar schlecht. Selbst der einzige Computer der Universität nützt zurzeit wenig, denn es gibt weder Strom- noch Wasserversorgung. In vielen Gebäuden fehlen Fenster und Türen, und der Großteil der Unterrichtsmaterialien und technischen Geräte wurde zerstört oder gestohlen. Kommunikation mit der Außenwelt ist lediglich per Satelliten-Telefon möglich. Für Naumann bleibt daher zurzeit fraglich, was die Hilfe von deutscher Seite überhaupt leisten kann: »Es ist nicht damit getan, einmal im Jahr einen Lektor nach Afghanistan zu schicken oder technische Geräte bereitzustellen, die ohne Strom nicht funktionieren. Zunächst geht es um grundlegendere Hilfe wie Baumaßnahmen, um überhaupt arbeiten zu können. Da gibt es auf deutscher Seite Unklarheit über die Zuständigkeiten bei der Finanzierung.« Im Januar hatte die Bundesregierung bei der Konferenz über die Wiederaufbauhilfe für Afghanistan in Tokio insgesamt Mittel in Höhe von 80 Millionen Euro zugesagt. Davon werden 50 Millionen Euro vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und 30 Millionen Euro vom Auswärtigen Amt verwaltet, das dem DAAD 1,9 Millionen Euro für den Bereich höhere Bildung zur Verfügung stellte. Projekte wie Baumaßnahmen werden jedoch durch das BMZ finanziert. Für Dinge wie die Instandsetzung der Universitätsgebäude fühlt sich, laut Naumann, daher niemand wirklich zuständig. Er hält eine Zusammenarbeit außerdem nur für sinnvoll, wenn die Finanzierung längerfristig gesichert ist. Klare Kalkulationen gibt es nur für dieses Jahr. Für 2003 ist die Situation noch völlig unklar – nicht zuletzt deshalb, weil im Herbst Bundestagswahlen bevorstehen.
Ein Projekt, das Naumann jedoch in diesem Sommer umsetzen möchte, ist eine Summer School in Bonn für afghanische Dozenten. »In Kabul herrscht ein Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal. Die Uni hat darum Dozenten eingestellt, die gerade erst ihren Abschluss gemacht haben, obwohl klar ist, dass sie in den letzten Jahren nicht ausreichend ausgebildet wurden«, schildert Naumann die Situation. Er selbst würde diese Kurse lieber in Kabul anbieten, hält das jedoch auf Grund der Situation vor Ort für nicht realisierbar.
An der Kölner WiSo-Fakultät ist die Stimmung optimistischer. Direkte Hilfen im Bildungsbereich sind in diesem Studienfach unproblematischer. Für einen provisorischen Lehrbetrieb reichen zunächst Bücher und qualifizierte Dozenten. Die Kölner planen unter anderem die Einrichtung einer Koordinationsstelle in Köln und Weiterbildungsmaßnahmen für afghanische Lehrkräfte. In Kabul soll ebenfalls eine Langzeitdozentur für Lehre und Verwaltung, besetzt mit einem deutschen Wissenschaftler, eingerichtet werden. Zusätzlich sollen verschiedene Dozenten für ein bis zwei Monate in Kabul unterrichten. Der DAAD signalisierte aber bereits, keine festen Personalkosten zu bewilligen, solange die Situation vor Ort sich nicht beruhigt hat und die Grundausstattung der Uni nicht wieder hergestellt ist. Bislang gibt es auf dem Campus nicht einmal Unterkünfte für Gastdozenten.
Der Bereich höhere Bildung ist nur ein kleiner Teil im Katalog der zugesagten Hilfsmaßnahmen für Afghanistan. Deutschland spielt auch eine führende Rolle beim Aufbau der afghanischen Polizeikräfte. Die Regie liegt bei den Innenministerien der Länder, das Geld kommt aus dem Etat des Auswärtigen Amtes. Wieder dienen hier die guten Beziehungen zu Afghanistan als Argument, denn auch die Zusammenarbeit auf dieser Ebene hat Tradition. In den 20er Jahren, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, waren deutsche Offiziere maßgeblich am Aufbau der afghanischen Armee beteiligt. Gleichzeitig schafft der deutsche Einfluss auf die Strukturen der inneren Sicherheit langfristig auch wirtschaftliche Vorteile. Grundvoraussetzung für zukünftige Investitionen ist die Wiederherstellung sogenannter geordneter Verhältnisse.
Zu Hochzeiten der Unipartnerschaften in den 70ern war Afghanistan das Land, das von Deutschland die höchste Entwicklungshilfe pro Kopf erhielt. Gleichzeitig florierten auch die wirtschaftlichen Beziehungen. Professor Naumann fasst die Entwicklung von dieser Ausgangssituation bis heute so zusammen: »Damals war die ganze Welt vor Ort, um zu helfen und die jeweiligen Interessen durchzusetzen. Dann kamen die Russen. Später der Bürgerkrieg. Das Land wurde fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Jetzt sind wieder alle da.«