Der Geist der Restauration
Die Spannung nahm im Vorfeld unerwartete Ausmaße an. Ein Böll-Roman, noch dazu dieser, auf der Schauspiel-Bühne genau in der Woche, als die Debatte um den städtebaulichen Umgang mit dem archetektonischen Erbe der 50er Jahre im Beschluss zum Erhalt des Schauspielhauses ihren Höhepunkt erlebte. Anna Viebrocks Adaption von »Billard um halb zehn« ist, ohne dass es geplant gewesen wäre, zum Stück der Stunde geworden.
Der Roman, 1959 erschienen, schildert die Geschichte um Neubau, Zerstörung und Wiederaufbau der Abtei St. Anton durch die rheinische Architektenfamilie Fähmel. Er zielt auf die politischen, moralischen und psychologischen Verwerfungen der bundesrepublikanischen Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die äußere Handlung spielt am 6. September 1958, dem 80. Geburtstag des Architekten Heinrich Fähmel (Michael Wittenborn). Fähmel, seine Frau (Julia Wieninger), seine Söhne Robert und Joseph (Maik Solbach) sowie der Freund Schella (Yorck Dippe) und der Nazi-Mitläufer und Neu-Minister Nettlinger Martin Reinke) arbeiten sich im Auftrag des Autors in wenigen Dialogen, dafür in um so ausgedehnteren, monologischen Erinnerungen und Reflexionen an einer Epochenbilanz ab.
Viebrocks Inzenierung fängt Bölls Szenario in einem zeitlich zerdehnten Gesamtkunstwerk aus Musik, Bühnenbild, Kostümen und Schauspiel ein. Alles ist hier von einer genau überlegten Nüchternheit und Blässe, die das restaurative geistige Fundament der 50er Jahre, ihre Tabus, auf den Punkt bringt. Und zugleich in Nuancen unterwandert: Ernst Surberg (in der Rolle Roberts überfordert) hat einen verfremdenden Soundtrack aus elektronisch bearbeiteten Alltagsgeräuschen komponiert; in der zweiten Hälfte gerät der Abend fast zur zeitgenössischen Sprechoper, wenn die Musik in den Vordergrund tritt und Rosemary Hardy als Polly Morph dazu punktuell ohne Worte ihre Stimme einsetzt.
Gegen diese fein austarierte und anspielungsreiche Ästhetik – einschließlich der Einblendungen aus der Verfilmung des Romans durch Jean-Marie Straub und eines tollen Videos, der die typische Architektursprache Kölns chiffriert wiedergibt –, steht die wenig theatralische Aufarbeitung der Textebene. Viebrock lässt ihre Schauspieler gefühlt viertelstündige Monologe halten, ohne dass eine andere Figur sich dazu äußern würde. So gut das ins Gesamtkonzept der Übersetzung einer mental bleiernen Zeit passen mag, so wenig überzeugt diese Lösung praktisch. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, auch im Blick auf die Sprach- und Sprechebene einen kleinteiligeren, experimentelleren Zugang umzusetzen. So schlägt das Restaurative ästhetisch doch noch zurück.
»Wozuwozuwozu« nach Heinrich Böll,
R: Anna Viebrock, Schauspielhaus,
4., 21., 24.6., 19.30 Uhr.