Krieger und Kegelschwestern
»Das größte Problem ist, dass es keine Pause-Funktion gibt. Auch wenn du nicht online bist, läuft das Spiel trotzdem weiter, und die anderen entwickeln sich weiter«, sagt Thomas Haeusler, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. »Es gibt Leute, die wirklich rund um die Uhr da sind. Da versucht man, mitzuhalten.« Wenn der 33-Jährige über World of Warcraft spricht, merkt man: Thomas Haeusler kennt sich aus. Sehr gut sogar. Wie selbstverständlich erzählt er von Dungeons, von epischen Items und von Drop-Chancen. Kein Wunder: In den vergangenen fünf Jahren stellte das Online-Rollenspiel das Zentrum seines Alltags dar.
World of Warcraft, oder WoW, wie Gamer sagen, gehört zu den erfolgreichsten Spielen aller Zeiten. Das Prinzip ist einfach: Für 15 Euro im Monat begibt man sich mit seinem Avatar in eine bis ins kleinste Detail durchdachte Fantasiewelt, in der man sich mit anderen Spielern in Gilden zusammenschließt, um Aufgaben zu lösen und Kämpfe zu bestehen. Je erfolgreicher man ist und je länger man spielt, desto erfahrener wird der Charakter. Ein wirkliches Spielziel gibt es nicht. Das sei auch nicht Sinn der Sache, die Leute sollten ja weiterspielen, erklärt Haeusler. Regelmäßig bringt die Herstellerfirma Blizzard Entertainment Erweiterungen mit neuen Levels auf den Markt, sogenannte Add-Ons. »Bei WoW ist die Suchtproblematik sehr viel höher als bei anderen Spielen«, sagt er.
2005 wurde World of Warcraft in Deutschland veröffentlicht. Ende 2008 gab es nach Herstellerangaben knapp 11,5 Millionen User weltweit. Auch Lennart Pietzner gehört dazu. Der 14-Jährige spielt Computer, seit er sechs Jahre alt ist. In die Welt von WoW ist er vor anderthalb Jahren eingetaucht. »Die Grafik, die Landschaften, auch das Erfolgssystem und die Talentverteilung – alles Faktoren, die mich begeistern«, sagt er. Allerdings spielt Lennart das Online-Rollenspiel nur am Wochenende – damit die Schule und die Hausaufgaben nicht leiden, so der Gymnasiast. Er sei zwar Mitglied in einer Gilde, aber »das ist keine Intensivgilde, wir sind alle Casual Gamer«. Lennart hat auch andere Hobbys. Er spielt einmal in der Woche Tennis und nimmt im Jungen Literaturhaus an der Schreibwerkstatt »Mein Block« teil. Früher hat er auch mal Geige gespielt.
Donnerstagnachmittag im Seniorenheim »Rosenpark« in Zollstock: »Erst drücken, dann Schwung holen – dann erst loslassen!«, sagt Simon Pietzsch. Der 28-Jährige trägt Sneakers, Shorts und gelbes T-Shirt. Seinen Spruch wird Pietzsch so ähnlich noch einige Male in den nächsten anderthalb Stunden sagen. Pietzsch ist Betreuer hier im Hochhaus an der Bernhard-Feilchenfeld-Straße. Es ist »Bowling-Nachmittag«, und vor Pietzsch sitzen sieben ältere Damen – zwei von ihnen im Rollstuhl – im Halbkreis und gucken neugierig auf die Videografik, das der Projektor auf die Raufasertapete wirft. Denn gebowlt wird mit der Nintendo-Wii, einer Videospielkonsole. Pietzsch erklärt ihnen, wie das geht: Kegeln ohne Kugel, aber mit Fernbedienung in der Hand.
Auf die Idee, die Senioren vor der Videospielkonsole zu versammeln, kamen zwei Münchener Studenten der Sozialen Arbeit. 2008 trugen Josef Kiener und Markus Deindl eine Wii-Bowling-Meisterschaft aus, unter anderem in fünf Kölner Altenheimen. Kiener sagt, er freue sich, dass sie mit ihrer Idee einen Stein ins Rollen gebracht haben und viele Seniorenheime die Bewohner jetzt regelmäßig vor der Wii versammeln. Es sei eine Möglichkeit, die Lebensqualität zu steigern und auch Demenzkranke aus der sozialen Isolation zu holen. »Bei Memory lässt man die ja oft nicht mitspielen«, sagt Kiener. Auch Pietzsch findet die Idee sehr gut, doch sei das eher etwas für den Winter. »Im Sommer sind die Damen froh, wenn wir nach draußen gehen können.«
Nach draußen gehen, das hat für Thomas Haeusler lange keine Rolle gespielt. »Wenn man eine Woche oder länger nicht rauskommt aus der Bude, dann merkt man schon, dass es zuviel ist«, sagt er. »Man denkt sich natürlich schon manchmal: Warum sitze ich immer nur hier drin? Aber da ist niemand da, der sagt: Mach mal Schluss. Und dann spielst du immer weiter.« Immer wieder haben auch aus seiner Gilde Leute aufgehört, und sogar richtige Abschiedsbriefe geschrieben. Da habe drin gestanden, dass das Spiel die Hölle sei, sagt Haeusler »Man versteht das, aber es hilft nichts. Man denkt dann eher: Jetzt ist einer aus der Gilde weg, der muss ersetzt werden.«
Unter dem Dauerspielen litten Haeuslers Beziehungen im echten Leben. Zwar habe er auch zu WoW-Mitstreitern freundschaftliche Bande geknüpft, aber persönlich getroffen habe er noch niemanden. »Du denkst, du bist in einem sozialen Umfeld – aber es sind quasi nur Stimmen in deinem Kopf«, sagt er. Der reale Freundeskreis störe dabei. »Wenn du in einem Raid bist, und das Telefon geht, dann kann du das nicht gebrauchen. Es nervt, und das tut mir am meisten leid.«
Haeusler arbeitet im Schichtdienst. Sein typischer Tag zu WoW-Hochzeiten sah zumeist so aus: »Von der Arbeit sofort nach Hause – und dann ab vor den Rechner, bis ein Uhr morgens, bis es nicht mehr ging.« Als die neuen Add-Ons rauskamen, nahm er sich auch schon mal Urlaub, um von früh bis spät spielen zu können. Vier Mal die Woche war er regelmäßig mit seiner Gilde zu sogenannten Raids verabredet. Mehrere Spieler schließen sich dabei zusammen, um eine besonders schwierige Aufgabe zu lösen oder einen mächtigen Gegner zu besiegen. »Das sind verpflichtende Termine«, sagt Haeusler. »Wenn man einen Raid geplant hat mit vierzig Leuten und zwei wichtige sind nicht dabei, dann ist das scheiße für alle anderen.«
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