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Nie mehr Freizeit!

Vor nicht langer Zeit, da klagten Manager und Politiker,

die Deutschen hätten keinen Gründergeist. Inzwischen

kündigen Akademiker ihre Jobs, um selbst Chef zu sein und Hartz-IV-Empfänger überlegen sich, was sie auf den Markt

tragen können. Selbstständigkeit erscheint heute vor allem in den Großstädten als die typische Erwerbsform, während der Angestellte Exoten-Status annimmt. Diese neue Arbeitswelt verändert unser Leben. Fünf Thesen dazu von Nava Ebrahimi und Bernd Wilberg. Martin Klein stellt drei Unternehmerinnen vor und zeigt, wie unterschiedlich die Motive sein können. Außerdem haben wir ausprobiert, wie das Arbeiten von Morgen Aussieht: ein Tag im Coworking Space.

Wer früher von sich sagte, er sei selbstständig, war meist Unternehmer, hatte Angestellte und versuchte mit einer Geschäftsidee Märkte zu erobern. Das ist heute anders. Existenzgründung ist für viele vor allem ein Ausweg: für die einen aus dem Trott einer Festanstellung, für andere, um überhaupt Arbeit zu finden. Bis Mitte der 80er Jahre sank die Zahl der Selbstständigen in Deutschland kontinuierlich, doch seit der Wiedervereinigung zeigt der Trend erneut nach oben. 2008 waren rund elf Prozent aller Erwerbstätigen selbstständig, etwa 4,1 Millionen Menschen. Der Zuwachs beruht zu einem großen Teil auf Ein-Personen-Unternehmen: Vierzig Prozent sind inzwischen Solo-Selbstständige. Sie unterscheiden sich vom Unternehmer alten Typs nicht nur dadurch, dass sie keine Angestellten haben, sondern auch durch ihr geringes Einkommen und fehlende finanzielle Absicherung. Ihre wichtigste Ressource ist ihr Humankapital.

In den 80er Jahren, als der Wandel begann, prägten Soziologen den Begriff »Neue Selbstständige«: Sie meinten damit vor allem hoch qualifizierte Menschen in der Informationstechnologie und den Medien. Mit dem Dot-Com-Hype um die Jahrtausendwende etablierte sich die Vorstellung vom selbst bestimmten Arbeiten und mündete später im häufig strapazierten Bild von der Arbeit am Laptop bei Latte Macchiato. Heute sind die Neuen Selbstständigen eine uneinheitliche Gruppe – und nur die Arbeit der wenigsten entspricht dem Klischee vom erfolgreichen Kreativen. Denn zu dieser Gruppe gehören vor allem jene, die nicht zur Kreativwirtschaft zählen und im Café herumlümmeln können: etwa die Kosmetikerin mit Nagelstudio, der Gebäudereiniger, der ambulante Krankenpfleger und ebenso die Lehrerin, die auf Basis eines Honorarvertrags arbeitet. Viele leben prekär.
Neue Freiheiten einerseits und verschärfte berufliche Anforderungen andererseits verändern die Erwerbsarbeit von Grund auf.


I. Feierabend gibt’s nicht mehr

Plötzlich kommt eine gute Geschäftsidee, die ausgearbeitet werden muss, egal, wie spät es ist. Auf einer Party trifft man mögliche Kunden und muss Smalltalk machen. Und das Smartphone muss auch im Urlaub eingeschaltet sein, denn vielleicht telefoniert ein Auftraggeber gerade eine Liste runter. Die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Privatheit verschwimmt. Es ist das Phänomen, das Wissenschaftler wie der Chemnitzer Arbeitssoziologe G. Günter Voß unter dem Begriff der »Entgrenzung« fassen: Die Strukturen in der Erwerbsarbeit lösen sich auf. Flexible Arbeitszeiten, unterschiedliche Arbeitsplätze, weniger Vorgaben, wie Arbeit strukturiert werden soll – Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Dabei durchdringen sich Arbeitsalltag und Privatleben immer mehr. Insbesondere trifft all das auf die Solo-Selbstständigen zu: In diesem Zusammenhang prägte unter anderem Voß den Begriff des »Arbeitskraftunternehmers«. Das sind Menschen, die mit ihrer Arbeitskraft wie Unternehmer haushalten müssen. Mit der Folge, dass der gesamte Alltag einer verstärkten Rationalisierung unterworfen wird. Wer in der Lage ist oder sogar Spaß daran hat, den Tag immer wieder neu zu planen, zeitgleich an mehreren Projekten zu arbeiten, für den ist dies ein Modell mit einem Höchstmaß an persönlichen Freiheiten. Doch können diese neuen Freiheiten, vor allem für diejenigen, die aus der Not heraus den Schritt wagen, zu neuen Zwängen führen.


II. Selbstvermarktung ist alles

Freie Mitarbeiter sind leicht austauschbar. Der Konkurrenzdruck unter den Solo-Selbstständigen ist in den meisten Branchen enorm. Kontakte müssen gepflegt werden. Wird sich sonst der Auftraggeber beim nächsten Mal noch an einen erinnern? Auch hier findet eine Entgrenzung statt: Ist man noch geschäftlich oder schon privat? Sind es Freunde oder Kunden? Neben den sogenannten Soft Skills wie Zeitmanagement, Rhetorik, Telefontraining und Business-Etikette, die auch bei Festangestellten eine hohe Bedeutung haben, benötigen Ein-Personen-Unternehmen zusätzliches Know-how. Wer für seinen Computer-Reparaturservice mit kopierten DIN-A5-Zetteln an Laternenpfählen wirbt, hat kaum Chancen.

Entscheidend für den beruflichen Erfolg ist es, auf seine Angebote aufmerksam zu machen, und das ist häufig mit der eigenen Person verbunden. Dafür steht der Begriff »Personal Branding«: Der Mensch wird zur Marke. Eine große Rolle spielen dabei die neuen sozialen Netzwerke. Es geht darum, die Persönlichkeit zu etablieren. Ein vernachlässigtes Facebook-Profil oder eine schlecht gepflegte Homepage wirken da wie eine speckige Visitenkarte. Auf der einen Seite profitieren Weiterbildungsanbieter und Coaching-Büros von diesen neuen Bedürfnissen, auf der anderen Seite schließen sich Solo-Selbstständige zu Stammtischen oder Netzwerken zusammen. Verbündete im Kampf um die wenigen Aufträge im Dienstleistungsbereich. Dabei darf allerdings nicht unterschlagen werden, dass Festangestellte ebenfalls immer höherem Druck ausgesetzt sind. Weil die Konkurrenz in den Betrieben wächst. Mit wem kann der Chef gut, mit wem nicht? Wer steht bei der nächsten Entlassungswelle auf der Liste? Mobbing nimmt zu, ebenso die Zahl derer, die innerlich kündigen. Insofern kann Solo-Selbstständigkeit mit ihrem hohen Grad an Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -orten durchaus eine verbesserte Situation darstellen.


III. Existenzgründer müssen jung und immer gut drauf sein

Die eigene Arbeitskraft immer wieder auf einem Markt feilbieten, auf den ständig neue Mitbewerber strömen, und dabei nie wissen, wie man in zwei Monaten die Miete zahlt: Das kostet Energie. Solange man jung, aus der Ausbildung noch einen geringen Lebensstandard gewohnt ist, geht es gut. Wenn man jedoch älter wird, weiß man Kontinuität zunehmend zu schätzen. Empirische Studien belegen das. Die Sozialwissenschaftlerinnen Alexandra Manske und Janet Merkel haben Kreative in Berlin untersucht und folgern: Bis etwa 35 können die Akteure die Entbehrungen, die vor allem das geringe Einkommen eines typischen Kreativen mit sich bringt, ertragen, doch mit Familie sei das nicht mehr möglich. Werner Eichhorst, Soziologe und stellvertretender Direktor Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA), kommt zu ähnlichen Ergebnissen. »Vor allem bei männlichen Selbstständigen ab vierzig kann man die Tendenz beobachten, in festere Beschäftigungsverhältnisse zu wechseln. Zwei Motive spielen eine Rolle: Das Bedürfnis, das Einkommen zu verstetigen, und größerer Pragmatismus.« Dann würden sich viele für langweiligere, aber stabile Jobs entscheiden.
Wer jung ist, verkraftet die anstrengenden und entbehrungsreichen Gründungsjahre meist also besser. Das allein reicht aber nicht: Gut drauf sein, stets eloquent und selbstbewusst wirken ist ebenso wichtig; auch nach Misserfolgen. Eine längere antriebslose Phase kann schnell an den Rand des Ruins führen.


IV. Selbstständige sind Einzelkämpfer

Selbstständige arbeiten oft, Solo-Selbstständige immer allein – von Teams abgesehen, die sich für einzelne Projekte zusammenschließen. Die Folgen der Do-it-alone-Mentalität seien Burn-Out, Depression und soziale Isolation, beklagt der italienische Soziologe Sergio Bologna, der im Jahr 2006 seine Thesen zur Neuen Selbstständigkeit veröffentlichte (in Italien ist der Anteil mit mehr als 26 Prozent der Erwerbstätigen gut doppelt so hoch wie in Deutschland). Bologna setzt auf stabile Netzwerke, allerdings mit Betonung auf »stabil«.

Lose Beziehungsgeflechte, wie sie nur noch in immer kürzer werdenden Projektzyklen entstehen können, meint er damit nicht. Ein Netzwerk, in der Wissenschaft auch »soziales Kapital« genannt, ist neben Humankapital die wichtigste Ressource der Ein-Personen-Unternehmer. Der Markt erschwert es jedoch dem Einzelnen, sich mit Gleichgesinnten zu verbünden und gemeinsam Interessen zu verfolgen. Die Zeit ist knapp, der Wettbewerb untereinander hart. Zudem vertragen sich verbindliche Beziehungen nur schlecht mit der viel geschätzten Flexibilität. Auch versagen die traditionellen Druckmittel, um Interessen durchzusetzen: Wer streikt, wird ersetzt. So spielen die Gewerkschaften keine Rolle. Bologna fordert daher von der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Aufbau und Pflege stabiler Netzwerke ermöglichen. Einrichtungen wie Coworking Spaces (siehe S. 27), die derzeit überall entstehen, könnten ein Schritt in diese Richtung sein.


V. Die neuen Jobs begünstigen Frauen

Selbstständigkeit biete dank räumlicher und zeitlicher Flexibilität gerade Frauen die Chance, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen, heißt es oft – die traditionelle Rollenverteilung vorausgesetzt. In der Tat gründen immer mehr Frauen ihr eigenes Unternehmen, und zwar meist allein. Als Motive führen viele an: um die Freiräume zu schaffen, die Beruf und Familie vereinbar machen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Unter anderem deshalb, weil Frauen meist nur einen Teilzeit-Job ausfüllen wollen. Wer aber auf dem stark selektiven Markt der Dienstleister und Freiberufler aus Zeitgründen mehrmals Aufträge ablehnt, ist schnell weg vom Fenster.

Unter bestimmten Voraussetzungen sei die Vereinbarkeit jedoch hoch, erklärt der Soziologe René Leicht vom Mannheimer Institut für Mittelstandsforschung: »Wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, bei der man an vereinbarten, abgrenzbaren Terminen arbeitet. Das gilt für Heilberufe.« In diesen Berufen finden sich seit jeher überwiegend Frauen, seit den 90er Jahren zunehmend ohne Festanstellung. Doch der aktuelle Schub an Solo-Unternehmerinnen kommt von den Hochschulen.
Wissenschaftler Leicht zufolge ist zu erwarten, dass Akademikerinnen sich verstärkt auf unternehmerische Berufe konzentrieren, weniger auf frauentypische. In diesen Tätigkeiten aber (und generell bei Höherqualifizierten) ist die Neigung zur Selbstausbeutung hoch. Das »bulimische Arbeiten«, wie es der Soziologe Andy C. Pratt nennt – also in heißen Projektphasen ganze Nächte durchackern –, ist für Mütter letztlich genauso problematisch, wie der klassische Nine-to-Five-Job. So wird Selbstständigkeit vorerst eine Männerdomäne bleiben.

Vielleicht erlebt das Modell der Festanstellung eine Renaissance, wenn – wie von Ökonomen prognostiziert – in vier Jahren tatsächlich Vollbeschäftigung in Deutschland herrscht? Arbeitgeber Fachkräfte händeringend suchen, und wenn sie sie gefunden haben, um jeden Preis binden wollen? Möglich, sagt Eichhorst vom IZA: »Eine strukturell bedingte demografische Entlastung des Arbeitsmarktes wird die Machtverhältnisse verschieben. Das könnte Arbeitgeber im Kampf um Talente dazu nötigen, dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse anzubieten.« Das muss jedoch nicht dazu führen, dass die Zahl der Existenzgründer zurückgeht, denn deren Motive sind unterschiedlich. Aber die Zahl der klassischen Arbeitsplätze könnte wieder steigen. Unwahrscheinlich sei das allerdings in der Medienbranche und der öffentlich geförderten Kultur, glaubt Eichhorst. »Hier beobachten wir derart massive Erosionstendenzen, dass eine Renaissance des beamtenartigen Angestellten vermutlich nicht stattfinden wird.«