Das Leben in Kriegszeiten
Am Anfang seines Aufstiegs zum Diktator war Benito Mussolini noch Sozialist. Und was für einer! In Marco Bellocchios großartigem Drama »Vincere« steht er vor einer Menschenmenge und fordert Gott heraus, ihn an Ort und Stelle zu zerschmettern. Falls nicht, gäbe es für ihn keinen Gott. Als die Polizei später Gottes Werk nachholen will, wird Mussolini von einer jungen Frau in den schützenden Schatten gezogen und gerettet. Einige Jahre später begegnen sich die beiden wieder: Ida Dalser zwängt sich zwischen die Parteien eines politischen Gerangels und steckt dem verdutzten Mussolini einen Zettel mit ihrer Adresse zu. Am Abend steht er vor ihrer Tür und sie lieben sich ohne Worte. In der Dunkelheit leuchten seine Augen wie bei einem waidwunden Tier.
Bellocchio erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Mussolini und Ida Dalser als Amour fou. Sie zieht ihn zu sich, ruiniert sich für ihn und folgt ihm obsessiv. Man kann verstehen, warum der aufstrebende Politiker diese Schattenfrau später nicht mehr um sich haben wollte. Er verleugnet sie, lässt sie für verrückt erklären und überträgt das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn einem Strohmann aus der Partei. Es ist eine unerhörte Geschichte, für die Bellocchio immer wieder unerhörte Bilder findet. Sein Film ähnelt dem Gefühlsstrom der italienischen Oper: Er trägt uns davon und lässt uns nicht mehr los. Im erweiterten Kinoprogramm der 20. Cologne Conference, das ungefähr zur Hälfte aus Deutschlandpremieren und zur anderen aus NRW-Premieren besteht, sticht das italienische Kino noch mit einem zweiten Meisterwerk heraus. Luca Guadagnino erzählt in »I Am Love« die Geschichte einer reichen Industriellenfamilie, die allmählich an ihrer Gefühlskälte zerbricht. Als Vorbild lässt sich leicht Luchino Viscontis »Der Leopard« ausmachen, mit dessen üppiger Eleganz sich Guadagninos Inszenierung durchaus messen kann. Sie verlegt Viscontis Thema, den Niedergang einer Klasse, in die Gegenwart und markiert den Unterschied, indem sie Akzente verschiebt und durchweg auf Musikstücke von John Adams, einem der bedeutendsten Komponisten der Moderne, setzt.
Eine bessere Untermalung für den ständigen Wechsel zwischen Nähe und Distanz, der nicht nur die Beziehung zwischen den Figuren sondern auch den Erzählstil prägt, hätte Guadagnino gar nicht finden können. Die richtige Distanz spielt auch in zwei US-amerikanischen Dokumentarfilmen eine maßgebliche Rolle. In »The Oath« porträtiert Laura Poitras den ehemaligen Leibwächter Osama bin Ladens, für »Restrepo« haben Tim Hetherington und Sebastian Junger eine US-Einheit während ihres Einsatzes in Afghanistan begleitet. In beiden Fällen ist die Gefahr, als Filmemacher zum Komplizen seines »Gegenstands« zu werden, offensichtlich. Bin Ladens Leibwächter Abu Jandal wurde bereits vor den Anschlägen vom 11. September im Jemen inhaftiert und gab einem FBI-Ermittler bereitwillig sein Wissen über El Kaida preis. Ebenso freimütig spricht er jetzt über sein Verhältnis zum Terror und lässt die Kamera ganz nah an sich und seinen kleinen Sohn heran. Auf irritierend selbstverständliche Weise geht es somit in »The Oath« um die Rückkehr zur Normalität: Nach seiner Resozialisierung hat sich Jandal eine bescheidene Existenz als Taxifahrer aufgebaut.
Ähnliches steht auch den Soldaten aus »Restrepo« bevor. Sie waren 15 Monate an der Frontlinie zu den Taliban stationiert und standen beinahe täglich unter Beschuss. Die Kamera der eingebetteten Regisseure ist immer mitten im Geschehen, wodurch Fragen nach Sinn und Strategie des Einsatzes geradezu zwangsläufig aus dem Blick geraten. Genau darin liegt denn auch die Botschaft: Im alles absorbierenden Alltag des Krieges geht das große Ganze schnell verloren.
Überhaupt ziehen sich Krisen- und Kriegsgeschichten wie ein roter Faden durchs Cologne Conference-Programm. Auch Todd Solondz ist im Grunde ein Kriegsberichterstatter; seine Figuren sind Veteranen einer versehrten Normalität. In »Life During Wartime« setzt er seinen Film »Happiness« mit denselben Figuren, aber in neuer Besetzung fort: Ciarán Hinds spielt den pädophilen Bill, der nach verbüßter Haftstrafe seinen mittlerweile erwachsenen Sohn sucht, und auf perverse Weise erneut als die am wenigsten monströse Figur erscheint. Obwohl sich alles um das Thema Vergebung dreht, hat Solondz mit seinen Figuren kein Erbarmen. Aber dafür spürt man in jeder Szene, dass ihr Schmerz echt und ihr Leid unendlich ist.
David Lynch (»Mulholland Drive«) wird im Rahmen der Cologne Conference mit dem Filmpreis Köln 2010 ausgezeichnet (1.10.). In einem Werkstattgespräch wird er über aktuelle Projekte als Fotograf und Maler berichten. Das Festival war vor 20 Jahren mit einer Vorab-Präsentation von Lynchs Mystery-Fernsehserie »Twin Peaks« gestartet.