Huldigen und beschuldigen

 

 

Der obszöne Mund der Mutter beim Essen eines Frischkäsebrötchens in Zeitlupe. Die Frühstücksreste am Mundwinkel. Schnitt. Zurück zum Alltag am Küchentisch. So sieht Hubert Minel die Welt. Er ist 16 Jahre alt und zum Leben mit seiner alleinerziehenden Mutter Chantal im Vorort verbannt. Ihr Reihenhaus ist vollgestopft, ein beengendes Nippes-Sammelsurium. Hubert schaut angewidert, aber das tut er oft: wenn die Mutter beim Autofahren den Lippenstift nachzieht, wenn sie beim Hören ihrer Radio-Soap lacht, wenn sie vor dem Besuch im Sonnestudio den Pelz überwirft.
Früher war ihm die Mutter heilig, jetzt wünscht Hubert, sie wäre tot. Der Alltag wird zu einem immer unerträglicher werdenden Folterkammerspiel für Zwei.

Die eskalierenden Hasstiraden können allerdings nicht verbergen, dass dies die Geschichte einer unmöglichen Liebe ist, Huldigung und Beschuldigung zugleich. Mit dieser inneren Zerrissenheit hat auch der Zuschauer zu kämpfen, denn der Held Hubert Minel ist Identifikationsfigur und Kotzbrocken zugleich wie auch Hauptdarsteller, Drehbuchautor und Regisseur Xavier Dolan? Die Versuchung, sein hochgelobtes Debüt als narzisstische Nabelschau abzutun, liegt nahe. Eigentlich möchte man dem gerade mal 21-jährigen Kanadier, einst Kinderstar, jetzt Wunderkind des Kunstkinos, mit Missgunst begegnen, so perfekt sitzt die Nerdbrille, so makellos seine zersauste Frisur. Er beherrscht die visuellen Codes unserer Zeit. Nichts scheint dem Zufall überlassen.

Der Eklektizismus seiner Bildsprache ist frappierend: Zitate aus Kunst, Literatur und Musik gibt es in »I Killed My Mother« wie Sand am Meer. Dolan bedient sich natürlich besonders fleißig bei der Filmgeschichte. Die Nouvelle Vague, Wong Kar Wai, ­Almodóvar, Gus Van Sant stehen Pate bei Requisite, Filmmusik und Konzipierung einzelner Figuren. Es überrascht nicht, in »I Killed My Mother« das Poster von »Sie küssten und sie schlugen ihn« zu entdecken, so eindeutig spielt er auf Truffauts Held Antoine Doinel an. Mit erstaunlich unbefangener Frivolität bastelt Dolan aus dem Katalog der formalen Stilmittel der Vorbilder sein Debüt zusammen, dabei sind seine künstlerischen Entscheidungen oft nur bedingt inhaltlich motiviert. Aber diese undisziplinierte Willkür wirkt erstaunlich befreiend, ästhetisierend, aber gleichermaßen ästhetisch. Ist es Hommage oder Abklatsch? Stellt sich diese Frage heutzutage überhaupt noch?

I Killed My Mother (J‘ai tué ma mère) CAN 2009, R: Xavier Dolan,
D: Anne Dorval, Xavier Dolan,
Suzanne Clement, 96 Min. Start: 3.2.