Der Raum als Instrument
Modern sein ist out. Auf dem Feld der elektronisch produzierten Popmusik sind nun die 90er Jahre an der Reihe, derweil herrscht in den Gefilden der handmade music seit geraumer Zeit ein schon an Konservatismus grenzender Traditionalismus. Bärtige Männer mit Klampfen stehen hoch im Kurs. Acts wie Mumford & Sons, Iron & Wine oder The Tallest Man on Earth füllen Hallen allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda.
Ging es beim Folk ursprünglich um den Song als Träger von Textbotschaften, definieren sich zeitgenössische Folk-Acts immer öfter über den Sound. Nicht der Song steht im Mittelpunkt, sondern seine Inszenierung. Bestes Beispiel: The Low Anthem, eine derzeit zum Quartett erweiterte Gruppe aus Providence, der kleinen Hauptstadt des nördlich von New York gelegenen Bundesstaates Rhode Island. 2009 gewann die Band mit ihrem dritten Album »Oh My God, Charlie Darwin« erstmals ein internationales Publikum für sich, nun wird mit »Smart Flesh« der Nachfolger veröffentlicht. Auf dem Höhepunkt der aktuellen Folk-Begeisterung könnten The Low Anthem zu big playern werden.
Während man beim Vorgänger noch das Gefühl hatte, hier seien zwei Gruppen am Werk – die eine mit zart schmelzendem Zuckerfolk und elfengleichen Falsett-Gesängen, die andere mit derben, an Tom Waits geschulten Whiskey-Weisen –, so handelt es sich beim neuen Album um eine homogene Kollektion getragener Country-Folk-Balladen in Slow-Motion. Ben Knox Miller verfügt zwar über ein erstaunlich flexibles stimmliches Ausdrucksvermögen, ist als Leadsänger aber durch alle Songs hindurch wiedererkennbar. Dennoch spielt er nicht die Hauptrolle. Die überließen The Low Anthem nämlich dem Aufnahmeort.
Eine riesige, verlassene Pasta-Soßen-Fabrik wurde in wochenlanger Arbeit zum Studio umfunktioniert und diente der Band zugleich einen Winter lang als Behausung. »Der Raumklang war in Wahrheit das wichtigste Instrument der ganzen Platte«, verlautbart Miller. »Die Resonanz war schauderhaft schön. Alle weiteren Instrumente waren dann sekundär – es ging eher darum, die richtigen Mittel zu finden, um diese wunderschöne Instrument zu aktivieren, das wir bewohnten.«
Die Songs besitzen, so karg sie auch inszeniert sein mögen, eine räumliche Dimension, die ihnen eine ungeheuerliche Größe verleiht. Feedbacks und Hallfahnen wurden beigemischt, die in hundert Meter weiter Entfernung eingefangen wurden. Auch hinsichtlich der Auswahl von Instrumenten handelt es sich bei The Low Anthem um echte Klangfetischisten: Antike Pump-Orgeln, Klarinetten und singende Sägen spielen im Kosmos der vier Multi-Instrumentalisten zentrale Rollen. Das mag alles ganz schön anti-modern klingen – altmodisch ist es aber ganz und gar nicht.
Tonträger: The Low Anthem, »Smart Flesh« (Bella Union/Universal) erscheint am 25.2.
Konzert: 20.3. Stadtgarten