Erotischer, brutaler, politischer
Mal kurz auf Rewind gedrückt: Vor dreißig Jahren startet MTV. Trotz all dem Wehklagen über viel zu schnelle Schnitte und die angebliche Sinnfreiheit der Bild-Ton-Collagen verändern die Musikclips in den 80er und 90er Jahren unsere visuelle Kultur; spätestens seit Ende der 90er wird das Musikvideo als eigene Kunstform anerkannt und hält dank Star-Regisseuren wie Chris Cunningham, Michael Gondry oder Spike Jonze Einzug in Galerien, Museen und auf Filmfestivals. Dann – ziemlich kurz nach 9/11 – geht alles den Bach runter: Werbemärkte brechen weg, die Plattenindustrie kann oder will sich die teuren Clips nicht mehr leisten. Das Geschäftsmodell des Musikfernsehen gerät in Schieflage und man sendet dort statt Musik lieber Trash-Reality-Shows.
StadtRevue: Das Musikvideo ist eigentlich tot. Warum also jetzt so eine Ausstellung?
Michael P. Aust: Weil wir gerade eine Art Wiedergeburt erleben und das Musikvideo durch das Internet dabei ist, wieder zu einem ganz relevanten Thema zu werden. 2001, 2002 war sicherlich eine Zäsur. Das Ende eines historischen Bogens. Aber schon mit dem Start von Youtube hat sich – zuerst unbemerkt – etwas Neues entwickelt. Fans haben angefangen, sich ihre eigenen Videos zu basteln, es gibt die Gruppe der so genannten »Community Dance-Videos«, die mit Amateur-Tanz arbeiten, oder die »Lip-Sync Videos«, wo mitunter wahnwitzige, ausgeklügelte Choreografien in einer langen Einstellung verwirklicht werden. Offizielle Videos imitieren diesen Amateur Style inzwischen und nutzen ihn als Inspirationsquelle. Eine Klasse für sich sind die Videos von Trish Sie für die Band Ok Go – fast jede der irrwitzigen Plansequenzen hat Kultstatus im Netz erreicht.
Aber auf Youtube ist doch die Qualität der eingestellten Videos oft extrem schlecht, und viele werden aufgrund des Streits zwischen GEMA und den großen Plattenfirmen gar nicht gespielt. Die Welt der Musikvideos erscheint mir vollkommen fragmentiert.
Daniel Kothenschulte: Ja, deswegen machen wir ja diese Ausstellung, damit es eben nicht mehr so fragmentiert ist. Alle sagen, man kann alles auf Youtube sehen, und wenn man dann guckt, ist vieles doch nicht verfügbar. Daher sehe ich unsere kuratorische Arbeit darin aufzuzeigen, was Neues kommt, wo das zu finden ist und wie es sich erklären lässt aus dem, was vorher da war, also aus der Geschichte und Vorgeschichte des Musikvideos.
Aust: Inzwischen entwickeln sich auch neue Geschäftsmodelle. 2004 hat Universal mit Musikclips sieben Millionen Euro pro Jahr verloren. Drei, vier Jahre später haben sie zwanzig Millionen damit gewonnen.
Wodurch?
Aust: Ein Beispiel: Für die USA und Kanada haben Universal zusammen mit Sony den Service Vevo gegründet. Das ist eine reine Musikvideo-Plattform, und sie befindet sich in den USA bereits auf Platz vier der meist geklickten Seiten.
Auf dieser Seite schaut man dann Musikvideos?
Aust: Genau, aber man kann sie auch kaufen und natürlich wird Werbung platziert. Das gilt ähnlich für Seiten, die hier in Deutschland schon erfolgreich sind, etwa Tape.TV, putpat oder myvideo. Das mit der Fragmentierung stimmt, sie wird aber zunehmend aufgehoben durch Empfehlungssysteme oder Freundeskreise. Ein gutes Beispiel ist auch vimeo, hier dürfen nur vom Regisseur selbst kreierte Videos hoch geladen werden und es bilden sich Gruppen, die Clips diskutieren und weiter empfehlen.
Die Musikclips zirkulieren heute also vor allem im Internet – was verändert sich dadurch?
Aust: Das Video ist von den Zwängen und dieser Weichspüler-Mentalität des Fernsehens befreit. Es kann durchaus erotischer werden, brutaler, politischer. Denkt man nur mal an das Justice-Video »Stresss« von Romain Gavras, das wir auch in der Ausstellung haben. Was das alles ausgelöst hat. Das Video thematisiert die Gewalt, die aus den Pariser Banlieues kommt, und ist mindestens genauso böse wie eine Jugendrevolte, genauso zwiespältig. Ein Video, das millionenfach geklickt wurde und das viel breitere Diskurse ausgelöst hat, als das jemals einem Video bei MTV gelingen könnte.
Kothenschulte: Die Freiheit gilt auch für die Länge. Bei der Berlinale lief Spike Jonzes 28-minütiger Kurzfilm »Scenes from the Suburbs«, der auf dem neuen Album von Arcade Fire basiert. Er besteht eben nicht nur aus Musik, sondern hat auch narrative Elemente.
Heißt das, Musikvideos sind eher als autonome Kunstwerke zu verstehen?
Aust: Grundsätzlich gibt es schon seit den 90ern eine Tendenz, dass die Bilder autonomer werden, dass die Regisseure die Musik als Soundtrack für ihren eigenen Film nutzen, der weit über den Inhalt des Songs hinaus weist. Dazu bestimmen die Künstler in viel stärkerem Maße über ihre Videos. Bestes Beispiel ist Radiohead, die mit die interessantesten Videos der letzten zehn Jahren gemacht haben. Aber natürlich geht es auch heute darum, mit dem Clip das Image der Band zu transportieren und am Ende des Tages einen Song oder ein Album zu verkaufen.
Kothenschulte: Deshalb bin ich sehr froh, dass unsere Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst stattfindet. Wenn es je eine angewandte Kunst gegeben hat, dann sind es tatsächlich die Musikvideos, bei denen ähnlich wie im Hollywood-Kino kommerzielle und künstlerische Interessen zusammenfließen. Die Frage nach der künstlerischen Autonomie stellt sich nur bei einigen Werken. Sicherlich bei Wolfgang Tilmans »Home & Dry«-Video für die Pet Shop Boys, für das er verwackelte Aufnahmen von Mäusen auf den Gleisen der Londoner U-Bahn verwendet hat. Oder bei Michael Gondrys legendärem Legostein-Video für die Whites Stripes (»Fell In Love With a Girl«). In solchen Fällen hat einfach nur ein Künstler den anderen eingeladen und jeder freut sich darüber.