Eins zu eins ist jetzt vorbei

Es reden mal wieder alle über die Hamburger Musterschüler Tocotronic. Ab und zu drängen sich im allgemeinen Diskurs aber auch merkwürdige Fragen auf. Macht die Band jetzt Klug-Rock für passionierte Autofahrer? Hier der Test.

Eigentlich gilt sie als ausgestorben – die gute, alte Promo-Cassette, die RezensentInnen vorab mit neuer, heißer Musik versorgt. Aber seitdem das Kopieren von Musik via Internet als der Untergang der Plattenindustrie im Besonderen und des Abendlands im Allgemeinen gilt, kommt sie wieder in Mode: Analog ist eben doch besser. Analog macht aber zu Hause gerade schlapp, also wandert das Band mit dem neuen Tocotronic-Album mit ins Auto, das noch immer ohne 10-fach-CD-Wechsler und Subwoofer, aber mit Autoreverse-Cassetten-Recorder und solider 4-mal-20-Watt-Beschallung leben muss.

Mittelstreifen und Fahrtwind im Duett

Einmal Oberhausen und zurück, von Berufs wegen, – das heißt zweimal Tocotronic von Seite A nach B. Zweimal 13 Songs zwischen 3.56 und 7.26. Bei 120 km/h ist der Sound optimal, etwas angematscht und dünn in den Höhen, aber mit kräftigem Durchzug. Vor allem wenn das Seitenfenster zehn Zentimeter geöffnet ist und der Fahrtwind eine extra Gitarrenspur legt.
Gas geben, lenken, hin und wieder die Spur wechseln – der Mensch konzentriert sich auf das Wesentliche. Die Sinne sind wach, geschärft und lassen die Musik bereitwillig ins Ohr und unter die Haut. Die Landschaft fliegt vorbei, während der Mittelstreifen im Takt trommelt. Hinter Solingen-Ohligs schaltet sich der Teil des Gehirns wieder ein, der für das Erkennen von Sprachmustern, für Reflexion, Abwägen, Einordnen und ähnliche menschliche Grundbedürfnisse zuständig ist: »Ganz klein am Horizont kann man Dinge sehen / Dinge, die wir nicht verstehen / Das Geschehen lässt uns auseinandergehen / Hinein in einen Wald aus Zeichen.«

Neuanfang

Keine Staumeldung, sondern vier Zeilen aus »Hi Freaks«. Ein Song, der schon beim ersten Hören klar macht: Die neue Tocotronic ist anders. Der Horizont ist weiter, die Abgründe sind tiefer.
Die luftige, von Piano und Streichern durchsetzte Produktion des fast sieben Minuten langen Songs und Dirk von Lotzows ungewohnt entspannter Gesang signalisieren den Schritt, den Tocotronic mit ihrem sechsten regulären Album vollziehen: den vom Rock zum Pop. Statt rau, geradlinig, (scheinbar) authentisch, heißen die Vorzeichen nun glammig, verschlungen, arty. Roxy Music, Bowie, vielleicht auch ein bisschen Prefab Sprout mögen im Geiste Pate gestanden haben. Klar, und Blumfelds Wandlung zur Popband mit Pathos, Kitsch und Hang zu klaren Worten dürfte in bester Erinnerung sein.
Der Neuanfang ist Programm. Und so nennen die Hamburger das jüngste Werk schlicht »Tocotronic«, als handele es sich um ein Debüt. Ein Debüt, das sich die Band hart erarbeitet hat. Eineinhalb Jahre haben sich die Aufnahmen hingezogen. Unter der Ägide des Produzenten und Arrangeurs Tobias Levin, der bei sechs Stücken auch als Mitkomponist genannt ist, haben sie gefeilt, gedrechselt und Möglichkeiten erforscht, Songs anders als bisher zu schreiben, zu arrangieren und einzuspielen. Eine klarer Fall von Mission Impossible: Mit den begrenzten Mitteln einer Rockband dem Paradigma des Rock entfliehen. »Früher konnte man eigentlich jeden unserer Songs bequem auf einer Gitarre nachspielen, das funktioniert jetzt nicht mehr«, sagt Dirk von Lotzow im Interview.

Rückblick

Bereits auf ihrem letzten Album »K.O.O.K« (1999) haben sich Tocotronic mit ihrer Existenz und allgemeinen Festschreibung als (Indie-)Rock-Band auseinandergesetzt. Die Single »Let There Be Rock« wirkte wie eine Abrechnung mit dem Genre und funktioniert im selben Moment doch wieder als großer, hymnischer Rock – trotz (bzw. wegen) kitschiger Europe-Fanfare, AC / DC-Zitat und Zeilen wie »das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut«. Ein fettes Sowohl-als-auch charakterisiert nicht nur diesen Song, sondern »K.O.O.K«. insgesamt.
»This Boy Is Tocotronic«, die erste Single des neuen Albums, wirkt wie eine Reminiszenz an diese Zeit. Es ist das einzige »echte« Rock-Stück der Platte. Der Titel verweist auf das semi-legendäre, in Belgien angesiedelte Dance-Projekt Technotronic und dessen Stomper »This Beat Is Technotronic«. Statt Europe-Fanfare setzt es diesmal ein Eddie-van-Halen-Riff, wie es fieser nicht sein könnte. Während »Let There Be Rock« sich eher dem Geist der Negation verdankt, steht »This Boy...« genau für das Gegenteil. Euphorisch begrüßt der Song die neue Situation und eröffnet das Album mit den Zeilen: »Ja / das ist jetzt / der einzige Zweck / alles / um uns herum ist weg«.
»This Boy Is Tocotronic« – das klingt wie eine Selbstermächtigung: Wir können das jetzt, Songs schreiben, die nicht mehr nur von A nach B gehen. Die nicht nur durch Zeit und Raum schießen, sondern sich im Hier und Jetzt breit machen und ausdehnen, sich verästeln und aus- und ineinandergreifen.

Ziellose Reise

Vor diesem Hintergrund dürften Tocotronic nicht unbedingt einverstanden sein, dass man ihr Album mal eben so im Auto hört. Abgesehen davon, dass die Wahrnehmung all der Produktionsfeinheiten in so einem Vehikel leidet, entspricht es hinsichtlich seiner Bestimmung nicht wirklich dem Charakter der Musik: Während man mit dem Auto möglichst schnell vom Start zum Ziel kommen will, machen Tocotronic das Ziellose zum eigentlichen Grund der Reise. Der ideale Adressat ihrer Musik ist eher der Cruiser, der das Fahren selbst als sein Ziel bestimmt, scheinbar planlos seine Runden zieht und so ein unsichtbares Netz aus Reifenspuren legt. Weil ökologisch nicht vertretbar sollte dieser Cruiser natürlich auf das Fahrrad umsteigen, das Wochenend-Ticket der Bahn benutzen oder einfach zu Fuß gehen. Im letzten Fall wird aus ihm dann der Flaneur, dem Tocotronic schon vor Jahren in »Der schönste Tag in meinem Leben« ein Denkmal gesetzt haben.
Mit der Erfahrung des Flanieren lässt sich das Hören des neuen Albums vielleicht am besten vergleichen. So wie der Flaneur sich ständig mit neuen Sinneseindrücken konfrontiert sieht, wird der Hörer in Klangräume geführt, in denen ihm eine Vielzahl an Metaphern des Visuellen und Topographischen begegnen: »Dickicht« »Pfad«, »Spiegelfläche«, »Umriss«, »Schimmern«, »Schatten«, »Zeichen«. So wenig diese Begriffe klar definierbare Orte beschreiben, so wenig offerieren die Texte dechiffrierbare Botschaften oder erzählen nachvollziehbare Geschichten.

Lust am Text

Jahrelang ließen sich Tocotronics Texte als saloppe, sprachverliebte Kritik an einer verspießerten Gesellschaft begreifen, als hämische Abrechnung mit dem Leben in der Provinz und den in den urbanen Zentren ausgemachten Äquivalenten. Mit diesem Album haben die Texte von Tocotronic als Identifikationsmodell endgültig ausgedient: »Wir waren es einfach leid, die Leute mit unseren Haltungen und Meinungen zu diesem und jenem zu konfrontieren.«
Wenn Dirk von Lotzow dieser Tage über das Zustandekommen seiner Texte nachdenkt, fallen oft Begriffe wie »Erfordernisse des Reims«, »Lust am Text« oder »automatisches Schreiben«. Abstrakt und metaphorisch verschleiern die Texte in dem selben Maße ihr Sujet, wie sie es erhellen; immer sind sie Rätsel und Lösung zugleich.

Trickster

In einer Ausgabe der Zeitschrift »Texte zur Kunst« vom letzten Jahr erwähnt von Lotzow in seinem Text über den kongolesischen Künstler Bodys Isek Kingelez den Begriff des »Trickster«. Der Trickster ist eine »Künsterpersönlichkeit, die sich dem standardisierten Blick verweigert und sich jeder Formensprache nach Belieben bedienen und somit ein gänzlich eigenes Universum mit eigenen Gesetzmäßigkeiten herbeischwindeln kann.«
In den Song »Neues vom Trickser«, der das Album sphärisch und balladesk ausklingen lässt, hat diese Programmatik Eingang gefunden. Er beschreibt den Trickser als »eine Art Benutzer des Dagegen-sein« und«Verführer des Dazwischen-seins.« Als einen Agenten des Künstlichen und Unauthentischen. Was zu erst einmal verwirrend und kompliziert klingt, löst sich dann auf in Textzeilen, die die erneuerte Grundhaltung der Band auf den Punkt bringt: »Eines ist doch sicher: / Eins zu eins ist jetzt vorbei / Wir sind die Agenten / Jetzt ist es soweit.«

»Tocotronic« von Tocotronic erscheint am10.6. auf L’Age d’OR / Zomba