Größer als dein Leben
Zwei Arten von Ekstase: Einerseits die Verschmelzung von Klängen zu einem warmen, feuchten, matschigen Brei, in dem man sich als Hörer wälzt, in ihn eintaucht, sich seinen Verschmelzungsfantasien hingibt. Klassisches Beispiel: das entgrenzende Gitarrensolo, wie es von Jimi Hendrix exemplarisch »erfunden« wurde. Andererseits gnadenlos präzise Rhythmen, die maschinenhaft stoisch vor sich hin rattern, die sich dir aufzwingen, schier übermächtig, überwältigend sind. Man kann sie nur ertragen, wenn man sich ihnen unterwirft, man zu ihnen tanzt und über das Wechselspiel von Monotonie der Beats und ganz leichten harmonischen Variationen zu einer Grenzüberschreitung, zur Auflösung des eigenen Körpergefühls kommt. Klassisches Beispiel: Techno.
Synthesen dieser zwei – popmusikalisch nach wie vor dominierenden – Formen der Ekstase hat es kaum gegeben, und wenn doch, dann findet man sie geglückt nicht bei »uns«, also in den Popszenen des Westens, sondern z.B. bei den saharischen Touareg-Combos, die die beschwörend monotone Musik ihrer Ahnen mit E-Gitarren spielen und mit Selbstverständlichkeit Riffs und Phrasierungen westlichen Rocks übernommen haben. Man denke an Tinariwen oder an die Gitarristen aus der Touraeg-Hauptstadt Agadez. Faszinierend für unsere Ohren ist, dass diese Synthese der klangekstasen auf Grundlage uralter Traditionen, einer seit Jahrhunderten überlieferten Musik basiert. Und diese scheint größer, mächtiger, stolzer als alle Popszenen, als alle kommerziellen Vereinnahmungsversuche.
Ihren Ausgang nahm die Euphorie, oder nüchterner: der westliche Blick auf diese post-traditionellen (nordwest-)afrikanischen Musiker aber nicht mit den Touareg-Bands. Gut 2.500 Kilometer nordwestlich von Agadez liegt das marokkanische Rif-Gebirge, dort wiederum befindet sich das Musikerdörfchen Jajouka (oder je nach Transkription: Joujouka). Die Tradition, die dort gepflegt wird, geht auf den sagenumwobenen Sidi Ahmed Sheikh zurück, einen islamischen Missionar und Heiligen, der Mitte des 13. Jahrhundert das Dorf gegründet haben soll und aus seiner Dichtkunst und den musikalischen Riten der armen Bauern jenes System, jenes Gruppengefüge, ja fast schon: jenen Orden schuf, der bis heute Bestand hat und für uns auf den Namen hört: Master Musicians of Jajouka.
Ihre Musik, die nicht aufgeschrieben (zumindest nicht wissenschaftlich kanonisiert), sondern mündlich weitergegeben wird, umfasst islamische Volkskultur und alte heidnische Bräuche. An sich ist sie schon eine Synthese, etwas – im besten Sinne – Unreines, ein Gebräu, in dem strenge religiöse Regeln sich in grenzüberschreitender Mystik auflösen. Beschwören die Gesänge, die komplex gewebten Polyrhythmen, die trotzdem starren und durchgearbeiteten Sequenzen, die schrillen Schreie der Ghaitas (Doppelrohrblattinstrumente) und Liras (Flöten) doch vor allem Boujeloud, den Ziegengott, den schrecklich schönen Gott der Fruchtbarkeit. Wir kennen ihn als Pan.
Vor sechzig Jahren brachte der marokkanische Maler Mohammed Hamri die zwischenzeitlich völlig verarmten und isolierten Musiker mit der amerikanischen, angemessen durchgeknallten Beatpoeten- und Intellektuellenszene Tangers (der einzigen Großstadt des Rif-Gebirges) zusammen. Hamri wusste, dass seine Freunde Paul Bowles, William S. Burroughs und Brion Gysin auf der steten Suche nach neuen Kicks, nach unbekannten, noch nicht ausgebeuteten Ritualen und Mythen waren. Und es funktionierte. Die Dichter wurden kindlich-naive Fans, holten die Musiker in die Großstadt, organisierten regelmäßige Konzerte, streuten Gerüchte. Bowles baute später ein großes Archiv der Musik des Rif-Gebirges auf.
Dann die zweite Zündung: Brian Jones, Gitarrist, mehr noch: Paradiesvogel der Rolling Stones, reiste kurz vor seinem Drogentod 1969 nach Jajouka und machte erste Tonaufnahmen, die 1971 von den Stones veröffentlicht wurden (»Brian Jones Presents The Pipes Of Pan Of Joujouka«) und die Musikergemeinschaft endgültig auf der Karte der Popkultur verzeichneten. Für den ersten Bruch im musikalischen Gefüge sorgte dann Free Jazzer Ornette Coleman, der nicht nur als Fan und Produzent anreiste, sondern mit den Master Musicians spielen wollte – und mit seinen freien Improvisationen und Blues-Ideen nur schwer in die Schemata der Marokkaner fand. Es soll ihm gelungen sein, eine Arbeitsweise, eine Spielmethode zu finden, mit der er die Musiker zur Aufgabe ihrer Rituale bewog und die ihn aber auch aus seinen Jazz-Klischees hinausführte. Eine Jahrhundertbegegnung, so raunt man, denn die Sessions sind bis auf wenig aussagekräftige Schnipsel nie veröffentlicht worden.
Seit Jones und Coleman stehen die Master Musicians der Pop- und Jazz-Welt zur Verfügung. Zahlreiche Kooperationen mit so unterschiedlichen Musikern, Produzenten und DJs wie Mick Jagger, Maceo Parker, Bill Laswell und Talvin Singh folgten. Forciert wurden die Begegnungen von Bachir Attar, der seit Mitte der 80er Jahre die Master Musicians leitet. Alles nicht unumstritten: Attar steht nicht nur für den kreativen Bruch mit der Tradition, sondern eben auch für kopf- und konzeptlose Weltmusik-Dudeleien. Die Master Musicians spalteten sich, wohl gemerkt: nach mehr als 700 Jahren. Jeder, der das Dorf, die Geschichte, die Combo, ihre Geschichten kennt, versteht das als Tragödie.
Bachir Attar leitet seine Master Musicians auch im Stadtgarten. Es wird keinen Fusion-Sound geben, keine unglücklich hippe DJ-Begleitung, keine Reminiszenzen an gealterte Rockstars. Man sollte sich aber auch nicht allzu romantisch blöd an ihrer Herkunft ergötzen. Das Ekstatische ihrer Musik ist schließlich kein Produkt einer unüberschaubar langen Geschichte. Sondern umgekehrt: Weil sie so gute Musik machen, haben sie so lange durchgehalten.