Lob der Behutsamkeit
Jedes Jahr eine völlig neu gestaltete Sammlungspräsentation, das käme anderen Museen nicht in den Sinn. Personal und PR-Aufwand investiert man heute lieber in als »spektakulär« hochstilisierte Sonderschauen, die Dauerausstellung der eigenen Sammlung – eigentlich doch Herz jeden Museums – verkommt zur Beigabe. Es sei denn, man macht alles von Grund auf anders.
Das Kunstmuseum des Kölner Erzbistums Kolumba, seit seiner Eröffnung im Zumthor-Bau 2007 so etwas wie das Synonym für die Ausnahme von der Regel des Kunstbetriebs, verzichtet auf das Prinzip »Wechselausstellung«. Stattdessen erlebt man alljährlich im September die Inszenierung eines neuen Ausschnitts der Sammlungsbestände, die sich über 2000 Jahre von sakraler bis zu zeitgenössischer und angewandter Kunst dehnen. Dauerausstellung? Eher: Veränderung als Prinzip. Jede Jahresausstellung ein Spiegel der grenzüberschreitenden Sammlungstätigkeit des Hauses, ein Ergebnis fortwährender kuratorischer Auseinandersetzung und Denkprozesse; ein präzises Ausloten der einzigartigen Architektur.
Mit diesem Konzept und der Weigerung, die Anbiederungsgesten, didaktischen Gängeleien und den Event-Aktionismus anderer Häuser zu kopieren, hat Kolumba seit der Eröffnung täglich 200 bis 400 Besucher angezogen und in den Medien höchstes Lob geerntet. Dass nun ein renommierter Kunstkritiker am 1. April in der FAZ den ersten Totalverriss veröffentlich hat, zeigt beeindruckenden Mut zur Dissidenz. Er wäre zu begrüßen im Sinne der Streitkultur, hätte sich Eduard Beaucamp nicht in einer wüsten Polemik vergaloppiert.
Beaucamp bauscht einen Bogen von Bildern als Glaubensretter bis zur Nähe von zeitgenössischer Kunst und Kirche, die »diffuse Spiritualität und bizarre Experimentierlust« begrüße. Nach dieser Einstimmung lobt er das Würzburger Museum am Dom – barocke Fülle! DDR-Künstler! – und wettert gegen Kolumba. Man fühle sich versetzt in eine kahle Calvinistenkirche, wo »freudlose Gruftästhetik«, »frostige Leere« und »bilderfeindliche Bespielung« zum Credo erhoben würden. Rumms. Man reibt sich die Augen, sucht nach Beispiel und Argumentation, überprüft das Gesagte nochmals vor Ort beim Ausstellungsbesuch. Und fragt sich: Waren wir im gleichen Museum?
»Die Kirchen und die Gegenwartskunst«, der Untertitel der Kolumne, zielt aufs Ganze. Das Verhältnis von Kunst und Religion ist ein weites, äußerst spannendes Feld und gut beackert, die Beschäftigung sei ausdrücklich empfohlen. Für Kolumba indes gilt: Eine Qualität dieses Museums in Trägerschaft der Kirche ist es, dass es weder Künstlern noch Besuchern solche Diskurse oder religiöse Bekenntnisse aufnötigt.
Kolumba ist zuallererst ein Kunstmuseum, als solches kann und muss es mit den Kriterien gemessen werden, die Kunstgeschichte, Kritik und eine aufmerksame Wahrnehmung bereitstellen. Insofern wiegt es schwerer, dass Beaucamp offenbar die zur Kunstbetrachtung unverzichtbaren Sehnerven durchgegangen sind. Es wäre ein lässlicher Lapsus, dass er von »Betonwänden« spricht, obwohl feinster Naturlehmputz im gesamten Haus die Ausstellungsräume prägt, folgte daraus nicht die Frage: Wenn ihm die sinnlichen Qualitäten von Lehmputz entgehen, was nimmt er dann wahr von der subtilen Materialität des Farbauftrags einer Leinwand? Man muss die radikale Malerei des Amerikaners Joseph Marioni, die derzeit einen Schwerpunkt bildet, nicht mögen – »schwache zeitgenössische Monochromien« sind es gewiss nicht. Und so fort. Unterstellen wir wohlwollend: Der Kritiker war in Eile, das verträgt sich halt schlecht mit einem Museum der Entschleunigung.
Damit zum Thema der vierten Jahresausstellung. Was für ein Feld für eine kontroverse Auseinandersetzung hätte Beaucamp hier gehabt – und belässt es beim Hieb auf das »körperverleugnende Motto«. Doch auch das ist nicht Beton, sondern schimmert als Leitmotiv in den düsteren, lichten, brutalen, zarten Tönen, die die differenzierten künstlerischen Sichtweisen ihm verleihen. Das Museums-Team rückte das »Noli me tangere!« (Berühre mich nicht?/?Halte mich nicht fest, Johannesevangelium) in den Kontext des Missbrauchsskandals, und die Kunst weitet diesen Blick. Mit vielgestaltigen Mitteln kreisen die Werke um Nähe und Distanz, Begehren und Respekt, Übergriff und Behutsamkeit. Im Kern: um die Integrität des Körpers und des Individuums.
Da ist die drastische, in beunruhigenden Märchenton gekleidete Bildgeschichte »Der große und der kleine Paul« von Michael Kalmbach, in der sich große Menschen der zarten, schmackhaften kleinen Menschen als Nahrung bedienen, bis ein vernichtendes Meer aus Kotze eine Utopie gebiert. Am anderen Ende des Spektrums ein weiteres zentrales Werk: die minimalistische Ton-Raum-Skultur »Pulsierende Stille« des Klang-Pioniers Bernhard Leitner, in deren Innerem der eigene Körper zum vibrierenden Klangmedium wird. Dazwischen viele Rauminszenierungen und einzelne Werke, die ebenso nachhaltig beschäftigen. Welche Qualität hat Berührung, Begegnung, Beziehung? Achtet oder verletzt sie Grenzen? Ergreift sie Besitz?
Man verlässt die Ausstellung mit angerauter Oberfläche und intellektuell herausgefordert. Man denkt vielleicht noch mal darüber nach, was dieses Haus so besonders macht. Kunst ermöglicht Grenzerfahrung, stellt existenzielle Fragen, macht Unsichtbares sichtbar, darin ist sie religiöser Erfahrung verwandt. Dass sie Glaubenssätze hinterfragt, ad absurdum führt, in letzter Konsequenz ketzerisch auftritt, macht sie zur Kunst. In beidem liegt ein Potenzial. Vielleicht ist es Kolumbas vornehmste Aufgabe, diese Reibung auszuhalten, aus ihr Funken zu schlagen, ein Ort der freien ästhetischen Erfahrung zu sein. Dass er als solcher immer auch gefährdet ist, sollte man nicht vergessen. Eduard Beaucamp gebührt Dank für den Anlass, sich die Qualitäten dieses Hauses noch einmal zu vergegenwärtigen.