Jan-Hendrik Heuer, 22 Jahre alt. Nimmt seit April 2011 am Projekt »Balu und Du« teil.

Ein Quantum Ehre

Vor elf Jahren stellten wir in einer großen Story »Die neuen Freiwilligen« vor, Menschen, die sich in bürgerschaftliches Engagement gestürzt und ein Ehrenamt übernommen haben. Heute sind Ehrenämter nichts Ungewöhnliches mehr, es gibt Statistiken, nach denen jeder dritte Deutsche im erwerbsfähigen Alter in den letzten Jahren ein Ehrenamt innehatte. Gleichzeitig ist die Kultur der Freiwilligkeit Gegenstand kritischer Reflexionen geworden: Wird durch sie nicht der Sozialstaat aus der Verantwortung genommen? Sind Ehrenämter ein Mittel, um Druck auf Löhne auszuüben und ersetzen sie nicht sogar reguläre Beschäftigungsverhältnisse? Sind Ehrenamtler die »Sparschweine der Nation«? Claudia Pinl geht in einem Essay diesen Problemen nach.

 

Der Verein »Himmel un Ääd« sucht ehrenamtliche Mitarbeiter für einen Kindermittagstisch. Der über Köln hinaus bekannte Pfarrer Franz Meurer diskutiert über Solidarität mit den Armen. Zwei Meldungen aus einer Kölner Tageszeitung, wie sie dort fast täglich zu lesen sind. Jedes dritte Kölner Kind lebt unterhalb der Armutsgrenze, heißt es auf der Website von »Himmel un Ääd«. Genau wie Pfarrer Meurer in seiner Vingster Gemeinde übt der Verein praktische Solidarität mit den Armen, hilft »schnell und unbürokratisch«, zum Beispiel mit Spielzeug und Kinderkleidung. Und renoviert Förderschulen, Kindergärten und kürzlich auch den Wartebereich der Kinderdialyse in der Kölner Uniklinik.

 

Schön, dass Menschen sich für andere Menschen engagieren, niemand soll abseits stehen, sich ausgegrenzt fühlen. Anderen zu helfen hilft auch den Helfenden: Es schafft Zufriedenheit, ist sinnvoll, vermittelt neue Einsichten und Kontakte. Rundum eine »Win-Win«-Situation. Aber warum rufen die­se und andere Beispiele so penetrant die Erinnerung an den »barmherzigen Samariter« aus der Bibel wach?  Das ist 2000 Jahre her. Oder an die heilige Elisabeth von Thüringen, die die Armen speiste. Das war vor 800 Jahren. Heute macht das die »Tafel«-Bewegung. Aber da war doch was in der Zwischenzeit?

 

Richtig, es gab einmal einen Sozialstaat, der sich um Arme und in Not geratene Menschen kümmerte, der Sozialhilfe oberhalb der Armutsgrenze zahlte, Arbeitslose in ABM-Stellen vermittelte, durch Steuereinnahmen dafür sorgte, dass öffentliche Gebäude und Einrichtungen in Schuss gehalten wurden, Bahnen und Busse auch in ländlichen Gebieten verkehrten und Leute mit Gipsbein auf Kassenkosten im Taxi zur Arztpraxis fahren konnten. Das ist noch nicht so lange her.

 

»Ehrenamtliche«, ob kurz- oder langfris­tig engagiert, sind das Bindemittel zwischen Staat, Markt und Privatsphäre. Ohne sie funktionieren demokratische Gesellschaften nicht. Zivilgesellschaftlich Engagierte waren daher schon immer ein Politikum. Ganz besonders im Fokus stehen sie aber seit den 90er Jahren, als Arbeitsplätze abgebaut und die sozialen Netze in Deutschland weitmaschiger wurden. Die Zahl der Hilfsbedürftigen stieg dras­tisch an aufgrund von Einsparungen bei öffentlichen Diensten, der Privatisierung und Ökonomisierung öffentlicher Aufgaben in der Kultur, dem Gesundheitswesen, bei der Integration von Migranten, in der Pflege und im Bildungssystem. Ehrenamtliche sind seither als »soziales Kapital« gefragt, um die Löcher, die der »Rückbau« des Sozialstaats reißt, kos­tengünstig zu füllen. Ehrenamtstage, Ehrenamtswochen, Ehrenamtspreise, jetzt gar das »Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit« sollen den Bürgersinn wecken.

 

Rund 23 Millionen Menschen engagieren sich in der Bundesrepublik neben ihrer sonstigen Beschäftigung kurzzeitig oder auf Dauer ehrenamtlich. Männer üben nach wie vor gern die »öffentlichen Ehrenämter« aus, als Schöffe, Ratsherr oder Vereinsvorstand, während die Hauptlast des sozialen Engagements auf weiblichen Schultern ruht. Es sind Frauen, die in den »Tafel«-Restaurants die Suppenteller füllen oder im Gemeindezentrum von Pfarrer Meurer die Pizzen backen.

 

Anfang August 2011 suchte die Kölner-Freiwilligen-Agentur Ehrenamtliche unter anderem für folgende Aufgaben: Freizeitbetreuung für Kinder und Jugendliche in Porz-Finkenberg; Hausmeister-Arbeit in einer gemeinnützigen Einrichtung; Büroarbeit für ein entwicklungspolitisches Projekt; Frühstücksausgabe in einer Obdachlosen-Einrichtung. Hierbei handelt es sich nur zum Teil um klassische ehrenamtliche Tätigkeiten. Andere sind eigentlich Vollzeitjobs für Angelernte oder gar Fachkräfte. Das wissen auch die Institutionen, die sie vergeben. Sie locken daher immer öfter mit kleinen oder größeren »Aufwandsentschädigungen«. Diese Tendenz zur sogenannten Monetarisierung von scheinbar ehrenamtlichem Engagement schafft neue Formen von Billig-Jobs. Zum Beispiel bei den großen Wohlfahrtsverbänden, die Aushilfstätigkeiten häufig nach der »Übungsleiterpauschale« bezahlen, wonach ehrenamtliche Trainer in Sportvereinen, Chorleiter, aber auch Erzieherinnen und Betreuerinnen für den nebenberuflichen Einsatz bis zu 175 Euro im Monat steuerfrei einnehmen dürfen. Geld, das für die Förderung des Ehrenamts gedacht war, entlastet die Kassen der Wohlfahrtsverbände und vergrößert zugleich die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

 

Frauen sind in doppelter Weise von dieser Entwicklung betroffen. Vor allem sie bilden die nun zum Einsatz kommende, monetarisierte ehrenamtliche »Randbelegschaft«. Sie soll die durch Personalabbau, Bürokratie, niedrige Löhne und Schichtarbeit psychisch und physisch ausgelaugten, ebenfalls überwiegend weiblichen Fachkräfte im Pflege-, Gesundheits- und Betreuungsbereich entlasten. Die Entlastung besteht hauptsächlich darin, dass die Ehrenamtlichen Kranken, Hilfsbedürftigen, aber auch Kindern die zwischenmenschliche Zuwendung geben, die früher integraler Bestandteil der Berufe von Altenpflegerinnen, Krankenschwestern oder Sozialarbeitern war. Diese Berufe erfahren so eine Entwertung.

 

Trotz des über Jahre anhaltenden Appells seitens der Politik und der Medien an die Bevölkerung, mehr Bürgersinn zu zeigen, hat sich die Zahl der freiwillig Engagierten nicht wesentlich erhöht, reichen die herkömmlichen Formen der Ehrenamtlichkeit anscheinend immer weniger aus, den Bedarf an Gratisarbeitern im sozialen Sektor zu decken.

 

Die Bundesregierung versucht daher schon seit längerem, die Flickarbeit an der sozialen Infrastruktur zu verstetigen und berechenbarer zu machen. Dies geschieht durch den Auf- und Ausbau von Freiwilligendiensten, bei denen sich die Ehrenamtlichen in Ganztags- oder Halbtagstätigkeit längerfristig binden. Durch die Aussetzung von Wehr- und Zivildienst zum 1. Juli 2011 wurde diese Politik noch einmal beschleunigt. Das Freiwilligen-Engagement wird nun auf breiter Front systematisiert, professionell gemanagt und monetarisiert: Im Unterschied zu den klassischen, meist unentgeltlich arbeitenden Ehrenamtlichen erhalten die Freiwilligen Aufwandsentschädigungen in unterschiedlicher Höhe. Die »Bufdis« des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) sollen in der Regel ein Jahr in den Einrichtungen arbeiten, die bisher Zivis beschäftigten – die Jüngeren in Vollzeit, die Älteren ab 27 wahlweise zwanzig oder vierzig Stunden in der Woche. Damit wird aber nur ein Teil des Bedarfs gedeckt, denn die Zahl der gemeldeten Zivildienststellen ist wesentlich höher als die 35.000 vorgesehenen, vom Bund subventionierten BFD-Stellen.

 

Die schon bestehenden Jugendfreiwilligendienste wie »Freiwilliges Soziales Jahr« (FSJ) oder »Freiwilliges Ökologisches Jahr« (FÖJ) mögen ihre Berechtigung haben, um Jugendlichen in der Zeit des Übergangs von der Schule zu Ausbildung oder Studium Orientierung zu geben, vor allem, wenn sie den Dienst im Ausland ableisten können. Nun soll auch das Engagement Älterer durch Dienste verstetigt werden. Schon länger unterstützt der Bund lokal organisierte »Freiwilligendienste aller Generationen«. Der BFD steht ebenfalls allen offen, Jugendlichen nach Ende der Schulzeit und Er­wachsenen ohne Altersbegrenzung, Männern wie Frauen. Und macht damit den bestehenden Diensten Konkurrenz. Zum Beispiel auch dem Modellprogramm »Bürgerarbeit« für Langzeitarbeitslose des Bundesarbeitsministeriums, bei dem 34.000 Stellen »im gemeinnützigen Sektor« mit 900 Euro sozialversicherungspflichtig entlohnt werden. In ein und derselben Institution können also in Zukunft nebeneinander Jugendliche mit einem FSJ-Vertrag, Ein-Euro-Jobber, Bundesfreiwillige und »Bürgerarbeiter« zu teilweise sehr unterschiedlichen Bedingungen arbeiten.

 

Der Charme des zivilen Ersatzdienstes bestand nicht zuletzt darin, dass viele junge Männer anschließend einen sozialen Beruf ergriffen, den sie ohne ihren Zivi-Status nie kennengelernt hätten. Unklar ist, wie attraktiv der neue Freiwilligendienst für Männer sein wird, wenn sie, statt »zum Bund« zu müssen, nach der Schule direkt einen Ausbildungs- oder Studienplatz besetzen können. Wahrscheinlich ist, dass sich wieder einmal der weibliche Teil der Gesellschaft verpflichtet fühlt, ein Lebensjahr dem Dienst am Gemeinwohl zu widmen, wie jetzt schon bei FSJ und FÖJ.

 

Schon weil er zu teuer sei, gebe es kein Zurück zum paternalistischen Sozialstaat des 20. Jahrhunderts, der die Bedürftigen bürokratisch versorgte. An seiner Stelle sollen wir selber anpacken, wir Bürgerinnen und Bürger. Und: Freiwilliges Helfen von Mensch zu Mensch schaffe erst die notwendige Wärme, die die Gesellschaft zusammen hält. Das behaupten viele politisch Verantwortliche, an der Spitze das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, aber ebenso die Vertreter der am eigenen Fortbestand interessierten Goodwill-Industrie, bestehend aus Freiwilligen-Agenturen, »Tafel«-Vereinen, Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen und Coaching-Agenturen, die sich auf das professionelle Management von Freiwilligen spezialisieren. Das Gegenteil ist richtig: Schon 2001 haben der Soziologe Robert D. Putnam und andere herausgefunden, dass die Motivation, sich für ein Gemeinwesen zu engagieren mit dem Wohlstand und der Sozialstaatlichkeit wächst. Wenn es dagegen der Mehrzahl der Menschen schlecht geht und kein Sozialstaat sie auffängt, ist jeder sich selbst der Nächste.

 

In die Problemviertel der Städte sollen wir gehen, zu den Kevins und Achmeds, und denen das Lesen und Schreiben beibringen, rät Bestseller-Philosoph Richard David Precht. Denn die vielen Jugendlichen ohne Schulabschluss seien eine Gefahr für unseren Wohlstand. Kevin und Achmed  lernen dann von uns nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch, dass man etwas umsonst tun kann, um des großen Ganzen willen. So lasse sich Integration schaffen, werde sozialer Kitt produziert, der die Gesellschaft zusammen hält.

 

Irgendwie dachte man bisher immer, dass öffentlich unterhaltene Schulen mit ausgebildetem und bezahltem Lehrpersonal dafür zuständig seien, Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Wenn sie das nicht leisten, muss mehr Qualität ins Bildungssys­tem. Das geht aber nicht ohne Geld. Nicht das Engagement von Freiwilligen, sondern nur eine andere Politik kann uns retten. Es gibt keine Alternative zu mehr Stellen für reguläres Personal, besserer Bezahlung und höherer Qualifikation in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Kultur, Bildung und Soziales. Wer soll das bezahlen? Die Frage lässt sich freilich nur beantworten, wenn man das rasante Wachstum von Einkommen und privatem Vermögen an der Spitze der Gesellschaft in den Blick nimmt. Das zu tun scheint aber aus der Mode gekommen zu sein.

 

Claudia Pinl lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Köln. 2010 erschien ihr Buch »Ehrenamt: Neue Erfüllung – neue Karriere. Wie sich Beruf und öffentliches Ehrenamt verbinden lassen«,  Walhalla Fachverlag, Regensburg, 176 S.,19,90 €.