Zu viel der Ehre
Christoph Luser spielt den namenlosen Protagonisten aus Rolf Dieter Brinkmanns einzigem Roman »Keiner weiß mehr«, erschienen 1968 – für Brinkmann der Durchbruch als Autor. Bevor der Abend in der Schlosserei überhaupt beginnt, sieht Luser schon völlig fertig aus. Dabei allerdings verdammt gut – klar, wir reden von Beat, Mode und Pop, wenn es um Brinkmann geht. Der Spieler spricht seine Figur auf eine erstaunlich sanfte, fast verschwurbelte Art. Ja, cool funktionierte 1968 sicher anders als heute. Die nachdenklich-sensible, den diskussionsfreudigen Subjektivismus der Zeit aufgreifende Sprechweise ist jedenfalls eine plausible Perspektive.
Die Jetzt-Klamotten, die die Schauspieler anfangs getragen haben, haben sie zuvor noch auf offener Bühne eingetauscht gegen modische Insignien der damaligen Zeit: Die Hose ist jetzt nicht mehr Röhre, sondern hat unten Schlag. Und bevor das Hinübergehen in die Figuren ganz abgeschlossen ist, liest der Dritte im Bunde (Orlando Klaus) noch laut den Titel aus der Kiepenheuer-&-Witsch-Originalausgabe des Romans vor.
Das zeigt: Der junge Regisseur Stefan Nagel, bislang Assistent am Schauspiel, geht an diese Uraufführung von Brinkmanns Roman sehr respektvoll heran. Das ist nicht unbedingt von Nachteil. Vor allem aber hat Nagel gute bis hervorragende Darsteller. Eine große Sache mit einem star-ken eigenen Zugriff kann auf diese Weise daraus allerdings nicht wer-den.
Nagel lässt den Roman, der aus vielen Gründen ein Meilenstein der deutschen Literatur ist, im Grunde linear durchspielen: Beobachtungen des hasserfüllt durch ein tristes Köln wandernden Protagonisten – die der Regisseur allerdings entschärft, weil ihn die grüblerische, um Zärtlichkeit und Liebe ringende Seite der Figur mehr interessiert als die gegen die saturierten Verhältnisse gerichtete. Drastische Schilderungen des ma-nisch aufs Biologische reduzierten sexuellen Verhältnis zu seiner Frau; kurze Reisen, Treffen und Gespräche; ausweglose Ehestreits.
Der Abend bringt diese radikal trostlose Figur sehr nahe. Andererseits: Die Videos, die Nagel zwischen den Kapiteln zeigt, sind ästhetisch und inhaltlich dünn, und selten wählt der Regisseur besondere Bühnenmittel. Einmal spielen die drei Darsteller auf einem schwarzen Laufband, wie das getriebene Ich durch die Waren- und Bilderwelt rennt: der postmoderne rasende Stillstand, als den »Er« die Wirklichkeit in seinem Bewusstseinsstrom erlebt. Sie geraten außer Atem, weil sie dem Text hinterherhecheln, der vor ihnen auf der Wand von oben nach unten abläuft. Die Getriebenheit überträgt sich vielleicht in den Saal, doch gleichzeitig hat es etwas Albernes, wie die drei da auf dem Band diese »Atemlosigkeit« eins zu eins vorspielen. Am Ende bleibt es bei einem liebevollen, beinahe unschuldigen Versuch, Brinkmann ein Denkmal zu setzen. Nur ist das etwas wenig bei einem Autor, der jedes Denkmal mit Füßen getreten hat.