Gebt uns Reform!
Arg lang schienen die Wochen ohne zertrümmerte Klassiker, ohne sperma-, blut- und schweißtreibende Action aus England, ohne spitzmündigen Esprit aus Frankreich, ohne deutsche Herzenspein, Familienklamauk und Großstadtdepression. All das bringt sicher die in diesem Monat beginnende neue Theatersaison wieder mit sich – und noch viel mehr?
»Wir stellen die Frage: Wo sind die Vielen in diesem Land der Dichter und Denker, die an den Schreibtisch gehören? Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben!«, ruft Meinhard Zanger, Leiter des Theater der Keller, hinaus in die Republik, und hat auch schon Antwort bekommen: Um die 60 Stücke waren bereits Mitte Juli bei der Kooperative Freier Theater eingegangen. Die IntendantInnen fünf Freier Theater werden das Dichtergut lesen und schließlich fünf Stücke küren: 10.000 DM Preisgeld wartet für jeden der SiegerautorInnen und eine Inszenierung an einem der Häuser.
»Emscher Drama« heißt der AutorInnenwettbewerb, benannt nach dem Ruhrgebiets-Fluss Emscher, der laut Zanger immer »der Inbegriff des Mülls war, eine Kloake, die aber jetzt bereinigt und renaturiert wurde.« Das spannende Projekt zur Nachwuchspflege entstand auf Initiative von Willi Thomczyk, dem Leiter des Jungen Theaters Kohlenpott in Herne. Unterstützt wird es vom Land NRW, von der Stiftung Kunst und Kultur NRW sowie vom Fonds Darstellender Künste. Doch so mancher Theatergänger mag erst mal die Stirne runzeln und fragen: Was ist denn mit den ganzen vorhandenen JungdramatikerInnen, was ist mit Düffel, Walser, Schimmelpfennig, Ostermaier, Pollesch und Co.? Die sind da. Und trotzdem nicht genug. Das ist der eine Kritikpunkt seitens der »Emscher Drama«-Initiative: Die Skepsis gegenüber dem Vorhandenen. In der immer wieder beschworenen Krise des Theaters sehen sich alle Spielstätten, egal ob städtisch oder privat, in der Pflicht, Entdecker zu spielen, ihrem Publikum Zeitgemäßes zu bieten. Junge AutorInnen – so scheint das Kalkül – für ein junges Publikum. Diese Pionierlust hat zwar einen regelrechten DramatikerInnen-Boom ausgelöst. Doch reservierte Theatergänger beschleicht dabei zuweilen Unbehagen – Reichen die gehypten Jungen wirklich an einen Botho Strauß oder Heiner Müller heran?
Versucht man behutsam Tendenzen auszumachen, so lässt sich feststellen: Geschichten in dialogischer Vermittlung werden kaum auf dem Theater erzählt, die Figuren haben oft wenig Tiefe, dafür wird mit Sprache und anderen Dramaturgien experimentiert, mit Clip-Formaten, dekonstruktivistischen Fragmenten und epischen Erzählweisen. Die Stücke sind oft so kurz, dass man sich fragt: Lauter Schnellschüsse? »Man muss immer ein bisschen unterscheiden zwischen Mode und Substanz bei den neuen Stücken«, grübelt Meinhard Zanger, und Willi Thomczyk differenziert nicht lange: »Theater ist doch nur noch high event. Da fällt eine Kuh aus der Bühnendecke auf die Erde – super! Es herrscht so eine Computerschreibe vor, die wird satirisch und eventmäßig aufgebrüht, die provoziert ein bisschen und ist im Grunde lächerlich. Das Theater ist doch der Ort, wo man über menschliche Werte diskutieren kann. Drama ist Menschheitsbild!« Hehre Ideale also versus bloße Oberflächen-Ästhetik? Vielleicht ist die aber treffendster Ausdruck unserer Gesellschaft, und selbst wenn Stücke sich als Eintagsfliegen entpuppen, vermögen sie in ihrer Nähe zur Gegenwart doch berührende Momente der Identifikation zu schaffen.
Abgesehen vom Zweifel an dem Vorhandenen gibt es ein zweites sehr konkretes Movens dieses Wettbewerbs: das Bedürfnis nach Uraufführungen. Denn eine weitere Folge der oben erwähnten Pionierlust ist der Poker um Uraufführungsrechte. Hier bleiben die Freien Theater oft auf der Strecke: »Wir kommen an die Uraufführungsrechte von Dea Loher oder Moritz Rinke gar nicht ran«, erklärt Zanger. »Jedes größere Theater legt 10.000 Mark auf den Tisch und bekommt den Zuschlag. Deshalb fordern wir Autoren auf, speziell für unsere Häuser zu schreiben.« Für die Ausschreibung bedeutet dies zunächst: Die Stücke müssen von maximal sechs Personen zu spielen sein, sie müssen die technischen Möglichkeiten des Freien Theaters berücksichtigen und dürfen noch nirgendwo anders gespielt worden sein.
Die freie Szene in der Krise, aus der sie ohne frischen Input junger DramatikerInnen nicht herausfindet? Lange waren die freien Bühnen die Innovationsstätten des Theaters, neue Ästhetiken wurden erprobt, die »Ungefälligkeit« gepflegt, das Publikum irritiert und genervt – bis irgendwann die Stadttheater den Reiz der Off-Szene entdeckten, die großen Bühnen durch Experimentierbühnen ergänzten und mit den Rebellen posierten: »Dann kam 1979 der clevere Jürgen Flimm, eröffnete die Schlosserei und streckte den großen integrativen Arm aus, um die Freien Theater ans Stadttheater aufzunehmen. Und heute haben die Freien Theater – ganz polemisch gesagt – das Problem der Selbstdefinition«, bemerkt Meinhard Zanger, in dessen Spielplan sich Etabliertes, viel Intelligentes, doch selten Radikales finden lässt. Autorenzucht also als Reform-Starter, eben »Emscher Drama«.
Neben Köln und Herne sind noch das Bonner Theater im Ballsaal sowie Münster mit dem Wolfgang Borchert Theater und Dortmund mit dem Theater im Depot beteiligt. Fünf sehr unterschiedliche Theater mit sehr verschiedenen Ansprüchen an Stücke und AutorInnen: Sieht sich beispielsweise das Theater der Keller als literarisch ambitionierte Bühne, möchte das Wolfgang-Borchert-Theater auch verstärkt politische Themen behandelt sehen und das Theater Kohlenpott sich sturm-und-dränglerisch dem Jugendtheater widmen. So wird wohl jedes der Häuser spielplangerecht sein Stück küren. Geplant ist aber auch ein Gastspiel-Austausch zwischen den einzelnen Theatern. Die Inszenierungen sollen von Bühne zu Bühne wandern, um den Kontakt zwischen den einzelnen Theatern mit diesem städteübergreifenden Kooperationsprojekt von Rhein und Ruhr und damit die Möglichkeit des Diskutierens, Kritisierens, Streitens. Die vermisst der 68er-Romantiker Thomczyk schmerzlich: »Was mich traurig stimmt, ist: Theater ist kein Fest mehr. Keiner bleibt nach den Vorstellungen, um mit den Schauspielern zu streiten. Diese Konsumhaltung ist öde. Es geht nur noch darum: Klatscheinheiten abholen, Geld zusammenraffen, sauber machen. Im Grunde wie in der Peepshow: Rein gehen, Geld zahlen, abspritzen, weg.«
So utopiebegierig die Ansprüche der IntendantInnen ans Theater auch sein mögen: Bei ihrem Wettbewerb erwarten sie nicht den maßgeschneiderten Hausautor mit dem perfekten Stück in der Tasche. Sie hoffen auf gute Entwürfe, Figuren, Plots, die dann in Zusammenarbeit mit den Theatern weiterentwickelt werden. »Das Scheitern an Ideen gehört zum Theatermachen«, findet Thomczyk. »Eigentlich sollte man als Publikum nicht mit der Haltung ›Och, heute sehe ich einen netten Abend‹ ins Theater gehen, sondern mit der Haltung: Heute sehe ich wahrscheinlich mal wieder Leute auf der Bühne, die eine Vision haben und scheitern – aber vielleicht ist da ein Moment, der mich ganz tief berührt!«
Am 10. Dezember werden die fünf Preisträger in Köln unter Anwesenheit von Schirmherr Franz Xaver Kroetz bekannt gegeben – denn sowohl für Zanger wie auch für Thomczyk ist der noch ein echter Dramatiker. Der Schirmherr und Vorbild-Dramatiker höchstselbst, schriftlich mit einer Fragenpalette konsultiert, antwortete freundlich-interessiert: »Ich mache als alter Dramatiker natürlich gerne Reklame für die Theater. Und ob kleine oder große Theater, das ist mir scheißegal, es gibt nur gute und schlechte Theater. Ich habe mal den Zanger in Berlin kennen gelernt und der machte einen sehr seriösen Eindruck. Da habe ich natürlich Ja gesagt. Ich möchte die Stücke irgendwann auch lesen, aber vielleicht können Sie denen ja mal
sagen: Hallo? Ich weiß überhaupt nicht, worum es geht! Macht nichts. Was wir brauchen, sind gute Stücke.
Stücke in dreifacher Ausfertigung an: Kooperative Freier Theater NRW, – Emscher Drama -, Güntherstraße 65, 44143Dortmund, Tel.: 0231-55752111; Einsendeschluss 30. September 2001.