Foto: Manfred Wegener

Lost in Vettweiß

Er suchte den Karnevals­irrsinn und traf auf fünf Malocher: Felix Klopotek war mit Brings unterwegs

Los geht’s. Nein, geht es nicht. Wir sind zu früh im Brings-Hauptquartier. In nicht ganz zwei Stunden müssen sie schon den ersten Auftritt absolviert haben, Mädchensitzung im Lever­kusener Forum, aber außer den Jungs von der Technik-Crew, die nun auch nicht von Stress geplagt zu sein scheinen, ist keiner von der Band da. Doch, wir sehen Christian Blüm, den wuchtigen Schlagzeuger, telefoniert ein bisschen. Christian ist arg ramponiert, Erkältung, Fieber, gerade noch fitgespritzt. Wir können eigentlich alle ersetzen, erzählt Peter Brings später, mich auch, dann singen halt der Harry oder Stephan. Aber den Christian? Ne, das geht nicht, der macht doch den ganzen Druck.

 

Und dann kommen die Jungs. Stephan Brings, der Bassist und Bruder von Peter, Kai Engel, Keyboarder und Akkordeon-Spieler, Peter Brings schlüpft rein, ein drahtiger, quirliger Typ, und kurz vor dem Aufbruch Harry Alfter, der Gitarrist — der kölsche Santana, aber dazu später. Es ist ein Donnerstag mitten im Januar, 17 Uhr, Brings werden an diesem Abend fünf Auftritte spielen, im Leverkusener Forum, in Vettweiß, Weisweiler, im Gürzenich, schließlich im Maritim. Es gibt Abende, da kommen sie »nur« auf drei, sechs ist die Höchstzahl. Früher waren es auch schon mal acht, meint Peter, aber, er verdreht die Augen, das geht nicht mehr. Um ein Uhr ist jeder zu Hause, noch was essen, bisschen abschalten, Peter zum Beispiel notiert sich ein paar Songideen, Textfetzen, klampft noch ein wenig rum, um drei dann ins Bett. Brings spielen in den nächsten sechs Wochen an jeweils sechs Abenden, über 200.000 Menschen werden sie bis zur Karnevalshochzeit be­jubelt haben — und das ausschließlich im Rheinland. Wie weit reicht dann die Erinnerung zurück? So ungefähr einen Abend, sagt Kai und lacht. Was meinst Du, wie viele Leute auf mich zukommen und mir auf die Schulter klopfen, schön, Dich wieder zu sehen — und ich sage: Wieder? Haben wir uns schon mal gesehen? Vorletzte Woche? Wahnsinn!

 


Ich habe noch keine Band auf diesem professionellen und kommerziellen Niveau erlebt, die so unkompliziert und unprätentiös ist. Brings sind ohne Allüren, kein Zynismus, keine anzüglichen Witzchen. Die Musiker sind aufgeschlossen, freundlich, aufmerksam. Natürlich geht es auch deftig zu, und Peter Brings ist nun wirklich keiner, der beim Reden von Selbstzweifeln geplagt ist und die Worte sorgsam aus dem Gedankenfluss herausfischt. Aber da ist nichts aufgesetzt, Brings biedern sich an keinen Kölsch-Standard an (von der unangenehm aufdringlichen Bier-Werbung schweigen wir hier). Klar, sie geben ihrem Publikum alles, das ist Teil des Deals. Aber sie müssen ihm keine Gefühle verkaufen, keine Seelen-Ausstattung aus purem Kitsch, also genau jenes Gift, das den Schlagersänger zynisch und verbittert, schließlich voller Selbsthass zurücklässt. Das ist ja das Schöne an Karneval: Es ist ein Spiel, eine kalkulierte Über­tretung des guten Geschmacks, eine zeitlich klar eingegrenzte — überwiegend freiwillige — Missachtung von zwischenmenschlicher Distanz. Genau deswegen kann man den hiesigen Karneval so trefflich verachten: Eben weil die Lust an der Grenzüberschreitung penibel reguliert ist. Andererseits ist es genau das, was es Brings und auch ihrem Publikum ermöglicht durchzu­halten, nicht im Rausch unterzugehen. Wenn Peter Brings der Meute im Festzelt schmeichelt und die einmalige Schönheit der Mädchen in Vettweiß oder in Weisweiler preist, weiß jede ­im Saal, dass Peter den Spruch noch ein paar hundert Mal vor anderem Publikum bringen wird. Es ist aber trotzdem nett.

 


Die Setlist: Witzchen zur Begrüßung, »Kölle du bes bunt«, »Das is geil« (ihr neuer Hit), »Man müsste noch mal 20 sein«, »Poppe, Kaate, Danze«, »Scheißejal«, »Halleluja«, dann als Zugabe ein Medley aus »Superjeilezick« und »Sulang mer noch am lääve sin«. »Superjeilezick« leitet Harry Alfter mit einem Gitarrensolo ein, das aus Santanas »Black Magic Woman« stammen könnte — der Sound, die Harmonien?… Das Stück ist eigentlich nicht von Santana, sondern stammt ursprünglich von Fleetwood Mac, wird aber heute ausschließlich mit dem Latinorocker assoziiert. So funktioniert auch der Brings-Rock: Man kennt die Versatzstücke von irgendwoher (am auffälligsten natürlich »Those were the days« bei »Superjeilezick«), und das soll auch so sein. Ihre musikalische Könnerschaft besteht in einem ungeschminkten Eklektizismus. »Halleluja« ist Eurodisco, »Scheißejal« eine Mischung aus Pubrock und einem Schuss Bluesrock à la AC/DC.

 


Wir fahren aus Vettweiß raus, rüber nach Weisweiler. Mädchensitzung in Vettweiß, Mädchensitzung auch in Weisweiler. Aber Vettweiß toppt alles. War krass, oder? Peter grinst. Zweitausend Frauen toben, Raserei, das Festzelt bebt. Es gibt sogar rührend peinliche Momente, etwa die »Lightshow«, die aus wenig mehr als aus flackernder Saalbeleuchtung besteht. Aber das fällt natürlich nur dem schnöde distanzierten Betrachter auf. Stephan, ganz ruhig: Das ist unser Publikum, die kommen auch im Sommer und die sind dann auch genau so gut drauf. Die Stimmung ist einfach toll, dafür gehe ich auf die Bühne. Das wahre Kölner Leben, meint er, finde doch gar nicht mehr in Köln statt, sondern draußen, in der rheinischen Provinz. Wer spreche denn in Nippes noch Kölsch? Er redet ein bisschen distanziert über das »Hoch­deutsche«, zu Hause hätten sie früher Dialekt gesprochen.

 


Zum Ritual gehört unweigerlich für jetzt und allezeit, dass die Band vor den Halleneingang fährt und direkt vom Tourbus auf die Bühne marschiert— wobei »direkt«, das wäre ja angenehm. Brings müssen sich durch den Saal kämp­fen, hier ein Autogramm, dort ein Küsschen, noch schnell ein Foto, Schubsen, Tatschen, Jubeln. Wenn die Straßen frei waren, gibt es vorher vielleicht fünf Minuten Luft in einem notdürftigst abgeschirmten »Backstage«-Bereich. Buffet? Nö. Getränke? Vielleicht. Im Maritim stibitzen sich die Musiker die Cola­flaschen vom Festkomitee. Es ist alles wahn­sinnig unglamourös. Und dann auch noch das: In Leverkusen überziehen De Räuber. Brings müssten längst auf die Bühne, Vettweiß wartet. Das Festkomitee schunkelt mit der Vorgängerband noch lustig mit, Mist, zischt Peter, dann halt ein Stück weniger, selber Schuld. In Vettweiß werden Brings vor den Räubern dran sein — Revanche.

 


Brings — das ist in erster Linie harte Arbeit, richtig harte Arbeit. Dreihundert Konzerte im Jahr. In der freien Zeit wird das nächste Album aufgenommen. Aber ihnen redet keiner mehr rein, das ist der Punkt. Sie haben ihr eigenes Studio hinten in Braunsfeld, eine geräumige Etage mit Wohnküche und Tageslicht. Sie haben lange Durststrecken hinter sich und eine fabelhaf­te Auferstehung als Karnevalsband vor elf Jahren. Sie wurden von Platten­firmen gefeuert und dann wieder unter Vertrag genommen. Aber das wichtigste: Sie sind einem scheißöden Job irgendwo auf dem Bau oder in einer Druckerei entkommen. Das wäre nämlich ihre berufliche Perspektive gewesen. Statt­dessen Hardrock. Und dazu singen, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Wir können doch alle gar nicht singen, lacht Stephan.

 


Hör mal, Peter hält mir sein iPhone hin, ein neuer Song, irgendwann weit nach Mitternacht von ihm solo eingespielt. Nur Peter und seine Gitarre, klingt gut. Nein, ist nicht gelogen, klingt wirklich gut, rau, karg und bluesig. Das wäre doch was, ein Soloalbum, ganz spartanisch! Ausgeschlossen, jeden Song schreiben wir für die Band, würden wir uns unsere guten Ideen vorenthalten, wäre es ganz schnell vorbei mit uns, meint Stephan. Die Band erarbeitet sich ihre Stücke gemeinsam, einer fängt an, der andere macht weiter. Überhaupt wirken sie fast schon wie eine Bruderschaft. Seit 1991 gibt es sie, Peter, Stephan und Harry sind von Anfang an dabei, Kai stieg ein Jahr später ein, Christian stieß 1994 dazu. Wir streiten uns, dass die Fetzen fliegen, bemerkt Peter lakonisch. Alles schon erlebt, Tourausstiege, Handgreiflichkeiten, übel­ste Beschimpfungen — wir sind nicht immer so lieb. Jetzt muss er doch grinsen: Aber Hauptsache, man geht hinterher wieder aufeinander zu.

 


Zurück aus der Provinz landen wir im Gürzenich, der größtmögliche Kontrast. Lackschuh­sitzung. Niemand ist verkleidet, dafür teuerste Abendgarderobe. Ja, natürlich, das Publikum feiert schon, irgendwie. Unbeholfen rhyth­misiertes Schulterzucken, eckiges Kopfwackeln. Ein wohl situierter Herr tut freilich gar nichts und sinkt tief in seinen Stuhl, mehr Tristesse geht gerade nicht. Ist das Wertpapier-Depot abgerauscht? Irgendeine Spekulationsblase geplatzt? Peter kündigt »Scheißejal« als Song zur Weltwirtschaftskrise an — nix auf der Tasche, aber ’ne Runde bestellen, wenn gar nichts mehr geht, schreiben wir halt an. Peter grinst dazu sein Brings-Grinsen, sehr, sehr breit. Der Herr sinkt noch ein wenig tiefer. Auftritte im Gürzenich sind immer speziell, erzählt Peter, heute Abend war wohl der gesamte kölsche Geldadel versammelt. Dann sagt er noch ein paar Sachen, aber die sind nicht jugendfrei.

Auf zum Maritim.

 


Wir parken auf der Deutzer Brücke, klopfen am Hintereingang des Hotels und nach zwei, drei Schritten sind wir direkt hinter der Bühne. Ge­rade ist Pause. Was ein Glück. Peter setzt sich hin, jeder Abend ist eine Kraftprobe, sagt er. Und dann jagen sie wieder raus, bringen ihre Show mit der gleichen Energie, mit der sie auch schon vor fünf Stunden in Leverkusen gespielt haben. Das Energielevel will gehalten werden, alles andere würde sofort auffallen (und für Vettweiß muss sogar noch ein bisschen mehr gehen, Ehrensache). Wenn man ihnen von hinten zuschaut, fällt auf, dass sie im Prinzip jeden im Publikum sehen können, die Beleuchtung besteht aus wenig mehr als dem üblichen Saallicht. Brings merken sofort, wenn das Publikum die Lust verlieren und sich abwenden würde. Diese Nähe ist brutal. Noch fünf Wochen.

 


Der Abgang ist stylish, naja, irgendwie. Einer hat Hunger, dann noch einer, also eigentlich die ganze Crew: Sie fahren jetzt rüber nach Deutz zu einem Imbiss, Spießbraten muss es sein. Peter kommt auf den Fotografen und mich zu, Danke! Ne, wir haben natürlich zu danken. Und wie fandet ihr’s? Fünf Musiker schauen uns an, als würden sie gleich die erste Review ihrer Bandkarriere hören. War ’ne tolle Erfahrung. Lachen. Der Spießbraten wartet.