Und ewig grüßt der Alternativrockstar

Weil Industrie-Pop zunehmend ideenlos und unrentabel wird, lautet die Parole wieder »Gimme Indierock«.

Wer den Berliner Plattenladenbesitzer Bodo Parlow nach CDs von New-Metal-Bands wie Limp Bizkit, Korn oder Linkin Park fragt, muss damit rechnen, eine unwirsche Antwort zu bekommen. Parlow, der seinen Laden nicht unweit des Kollwitzplatzes hat, einer Touristenhochburg auf dem Prenzlauer Berg, ist rigoros im Hinblick auf sein Sortiment und seine Klientel. Er führt hauptsächlich Indierock, Indietronics und elektronische Musik, und wer deshalb seinen Laden aufsucht, kann auch wunderbare Gespräche mit ihm führen.
Wer Parlow also beispielsweise fragt, was es denn mit diesem Album von Modest Mouse auf sich habe, wird darüber aufgeklärt, dass das böse, schlafmützige Major-Label Epic/Sony dieses neue Modest-Mouse-Album in Europa nicht veröffentliche. Einmal in Fahrt, gibt es für Parlow kein Halten mehr: Ja, das Soloalbum des Sängers der belgischen Band deus hätte Monate lang nicht in Deutschland erscheinen können, weil die Firma keinen Bedarf sah. Und Bands wie Guided By Voices oder Brian Jonestown Massacre wären in den USA bei einem Unterlabel von Warner sprichwörtlich auf Eis gelegt worden.

Altstars statt Nachwuchs

Nun ist Parlow als Plattenladenbesitzer eine aufrechte Indie-Seele: ein Nerd, der zumindest in Sachen Musik eine Menge von Nick Hornbys Figur Rob Fleming hat. Andererseits trifft Parlow mit seinen tendenziösen Äußerungen den Kern der Sache: Die Pop-Industrie hat nicht nur mit nie gekannten Umsatzeinbußen zu kämpfen, sie befindet sich auch in einer schweren ästhetischen Krise. Sie weiß nur wenig mit den vielen Bands anzufangen, die sie sich aus Credibility-Gründen und als Hoffnungsträger aus dem Indiebereich eingekauft hat und steht ratlos der stetig voranschreitenden Marktzersplitterung gegenüber, die sie selbst durch ihre Einkaufspolitik forciert hat.
Sah es Anfang der 90er Jahre so aus, gerade im Fall einer Band wie Nirvana, als sei die Industrie bequem in der Lage, Individualität und Aufsässigkeit effizient zu vermarkten, ist sie in den folgenden Jahren doch wieder in Lethargie verfallen und bevorzugt das Arbeiten mit bereits »gemachten« Superstars. So ist zwar die Sparte »Alternative Rock« seit den 90ern einer der erfolgreichsten Wachstumsbereiche geworden – doch das war es dann auch. Die Rezepte sind bis heute die alten geblieben. An den langsamen Aufbau einer Band oder eines Einzelkünstlers ist nicht zu denken. Keine Zeit, kein Geld, keine Konzepte. Am besten man kauft en gros bei den Kleinen, irgendwas springt schon irgendwie dabei raus. Die Verantwortlichen der großen Plattenfirmen weisen zwar gern auf das viele Brennen von CDs als Grund für ihre Krise hin, auf die »Umsonstkultur im Internet«. Sie verschwenden auch viel Zeit und Ressourcen, um einen vermeintlich sicheren Kopierschutz zu entwickeln. Doch sie umgehen dabei weiträumig die Tatsache, dass ihnen ansonsten nicht viel einfällt im Hinblick neuer Musikstile sowie eigensinniger, aber möglicherweise zukunftsträchtiger Musiker. Die Krise ist eine hausgemachte.
Lieber feiert man wieder einmal das neue Album von Oasis, schickt die Gallaghers auf Promotour und lässt sie von wirklich jedem Magazin in Europa interviewen, was früher, als Oasis noch wirkliche Superstars waren, ein Unding gewesen wäre. Doch alle feiern mit. Auch die sogenannten Medienpartner sitzen oft recht einfallslos in den Büros ihrer Kultur- und Musikredaktionen herum.
Oasis sind eine halbwegs sichere Bank, zumindest in Europa. Aber die Musik auf dem aktuellen Album »Heathen Chemistry« könnte auch von 1994 stammen: Oasis spielen Oasis und haben ein manierliches Album gemacht, vielleicht ihr zweitbestes.

Der neue, alte Rock

Das Oasis-Album wiederum interessiert in den Staaten keinen Menschen. Hier hat man eigene große Rock-Acts: Bands wie Limp Bizkit, Korn, Slipknot, Incubus, Creed oder Nickelback. Alles sogenannte New-Rock- und Nu-Metal-Bands, von denen seit ein, zwei Jahren fast jede allein mehr Alben verkaufen als Shaggy, Britney Spears, N’Sync oder Michael Jackson. Nur sind in diesem Fall die Präfixe »new«, »nu« oder auch »modern« eine Mogelpackung. Bei genauerer Betrachtung stehen sie gerade mal dafür, dass hier eine neue Generation von Bands am Start ist und eine neue Generation von Zuhörern findet. So kannte man den Nu-Metal-Sound schon Ende der 80er Jahre, als Bands wie Faith No More oder die Red Hot Chili Peppers knallige Gitarren mit Sprechgesang kombinierten. Funk-Metal-Rap-Crossover hieß das seinerzeit. Während die Red Hot Chili Peppers aber zu Rockdinosauriern wurden und Faith No More sich auflösten, entwickelten jüngere Bands diesen Sound weiter, ließen ihn hier eine Ecke brutaler werden, versahen ihn dort mit mehr Hitpotential, und fertig war der neue, alte Rock. Nicht viel anders ist das bei den Neo-Grungern, deren Sound schon von Bands wie Pearl Jam oder Alice In Chains bis zur Neige ausdifferenziert wurde: Viel Pathos, viel Schweinegitarren, viel glaubhaft rübergebrachtes Leiden an der Welt.
Nun lässt sich weder den Musikern noch den jungen Fans vorwerfen, dass sie diese Musik produzieren und mögen. Und auch nicht den großen Firmen, dass sie mit dieser Musik Geld verdienen: Der Schatten von Nirvana ist ein langer. Das Problem der Plattenfirmen ist, dass sie diesen Trend, auf Teufel komm raus melken und in die Länge ziehen. Also werden die Epigonen an den Start gebracht: Box Car Racer, Hoobastank, 30 Seconds To Mars, 4 Lyn, Nine Days, um willkürlich ein paar zu nennen.
Aber wenn jemand wie Andrew W.K, ein Stumpfrocker mit Glamour, aber ohne Potenz, in Deutschland gar nicht läuft – keine 50 Leute wollten ihn bei seinen wenigen Deutschland-Gigs sehen, – dann versteht man die Welt nicht mehr. Es gab doch so viel Feedback in den Medien!

Gutes ist Independent

Der Focus der Majors ist mittlerweile so verschoben, dass die an sich als überholt geltenden Vorstellungen vom bösen Major und gutem Indie aktueller denn je sind. Geschichten von Bands mit unglücklichen Erfahrungen bei Major-Labels gibt es haufenweise. Komische Geschichten wie die von Wilco, einer US-Folkband mit Pop-Appeal, aber duchaus dem Hang zu experimentellen Ausflügen. Die hatten sich bei der Firma Reprise/Warner nicht als Renner erwiesen, obwohl sich ihr Album »Summer Teeth« fast eine halbe Million mal verkauft hatte. Als die Band mit ihrem neuesten, musikalisch ausgefallenem Album »Yankee Hotel Foxtrott« vorsprach, gab es keine Veröffentlichungszusage. Wilco kauften das Album zurück und vertrieben es überaus erfolgreich über ihre Website. Über diesen bizarren Umweg landeten sie schließlich bei Nonsuch, einem Warner-Sublabel.
Oder die Geschichte von Guided By Voices, einer für ihren melodiösen Lo-Fidelity-Rock bekannten Band. Die Band veröffentlichte in den Staaten zwei Alben bei TVT, ebenfalls einem Warner-Unterlabel, mit viel Geld, großem Studio und berühmten Produzenten im Rücken. Das funktionierte nicht, weil Guided By Voices dadurch viel von ihrem alten Lo-Fi-Charme verloren. Aber auch weil das zweite Majoralbum »Isolation Drills« in Europa gar nicht mehr beworben wurde. GBV sind inzwischen wieder bei einem Indie unter Vertrag, bei Matador, und alles geht von selbst: GBV-Vorturner Robert Pollard gibt Interviews, das in der Tat wieder bessere Album wird wohlwollend besprochen und die Band ist erneut am Start.
Eigentlich hatte man geglaubt, solche Geschichten gehörten der Vergangenheit an. Denn seit Niravana sind Bands aus dem Alternative-Bereich zahlreich unter Vertrag genommen worden – aber immer wieder nach kurzer Zeit abgewandert. Es sind zahlreiche Indie-Major-Kooperationen abgeschlossen worden wie zum Beispiel in Deutschland zwischen L’age d’or und Polydor oder Sony – ohne dass daran langfristig viele Bands partizipieren konnten. Tocotronic bilden die Ausnahme, denn selbst die Sterne, dafür braucht man nach der Resonanz auf ihr Album »Irres Licht« kein Hellseher zu sein, dürften nach ihrem Wechsel von Sony zur Virgin bald wieder bei einem Indie sein. Es sind ganze Indie-Plattenfirmen aufgekauft worden, wie SubPop oder Matador, oder, ganz aktuell, Zomba von BMG und Mute von der EMI. Bislang hat das nicht viel genutzt. SubPop bringt seit Jahren nichts Gescheites mehr heraus, und Matador ist seit längerem wieder ein Indie.

Unabhängigkeit sichert Qualität

Ein ehemaliger Indielabelbetreiber wie Christoph Ellinghaus sagt: »Manche großen Firmen gießen oft Millionen in ein kleines Label hinein, und dann kommt gerade mal eine große Band heraus: Oasis bei Creation/Sony, Fatboy Slim bei Skint/Sony usw. Am Ende kommt nicht soviel dabei herum, wie erwartet, und dann gucken die kleinen Labels in die Röhre.« Trotzdem versucht Ellinghaus mit Labels, einem europäischen Indielabelverbund unter dem Dach von Virgin, eine neue Form der Zusammenarbeit zu etablieren zwischen groß und klein, zwischen schwerfällig und kreativ. Mit inhaltlichem Erfolg. Zumindest sind bei Labels in bald zwei Jahren so viele interessante Acts herausgekommen wie bei einem Majorlabel in den letzten zehn Jahren nicht. Wie das ökonomisch aussieht, läuft wieder in einer anderen Rille, wie lange also Virgin/EMI in Krisenzeiten mitspielt und die nicht immer schwarzen Zahlen abnickt bleibt abzuwarten. Mit Bands wie Calexico und The Notwist konnte Labels bisher jedenfalls auch kommerziell Erfolg verbuchen.
Bei einem anderen Indielabel, dem Berliner Kitty-Yo-Label, einem der vielseitigsten Labels der letzten Jahre, ist man weiterhin skeptisch: Hier hat man nur für einzelne Singles und Alben die Unterstützung von Majorfirmen eingeholt, ansonsten aber jeglichem Buhlen größerer Firmen eine Absage erteilt. »Was wir hier haben, haben die bei den Majors im Leben nicht«, hat der frühere Labelbetreiber Patrick Wagner einst gesagt. Und meinte damit: Perspektive und Zusammenhalt, Engagement und Esprit, die Lust auf Musik. Im Gegenteil versucht Kitty-Yo inzwischen wieder, den Output herunterzufahren, gezielter ein Publikum an-zusprechen, mit kleinen, überschaubaren Auflagen – womit man sich, fast wie zu den Zeiten, in denen Kitty-Yo als Postrock-Label galt, in guter Gesellschaft befindet mit den elektronischen Labels und denen an der Schnittstelle von Song und Track: Mille Plateaux, Karaoke Kalk, Kompakt, Scape oder Morr Music. Sie alle bevorzugen eine Soundfarbe und sprechen ein nicht allzu großes, aber treues Publikum an.
Die Majors sind weit davon entfernt, vergleichbare Labels aus sich selbst heraus zu erschaffen. Gerade der Bereich der zahllosen elektronischer Spielarten ist ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Das bekommen sie im Leben nicht aufgemacht, um in der Terminologie von Patrick Wagner zu bleiben.
»Schade nur....«, sagt dann auch Bodo Parlow, legt stolz sein eigenes, schon lange vergriffenes Hedero/Hellberg-Debüt-Album ein und dreht auf volle Lautstärke, »schade nur«, schreit er, »dass nur die wenigsten Menschen sich all diese tolle Musik in ihrer ganzen Vielfalt komplett leisten können.«