Knutschen, nicht kleckern

Volker Lippmann inszeniert Ferdinand Bruckners

Krankheit der Jugend am Theater Tiefrot

»Nur die Kindheit ist lebenswert. Mit 17 sollte sich jeder erschießen, denn dann folgen nur noch Enttäuschungen.« Demoralisierung, Lethargie, Zügel- und Ziellosigkeit greifen um sich in Ferdinand Bruckners Drama aus den 1920er Jahren.

 

Bruckner traf damals den Nerv der Zeit, das Stück »Krankheit der Jugend« gab dem einen Namen: Es skizziert eine Generation, die sich aus Angst vor dem Erwachsenwerden, vor wichtigen Entscheidungen in Selbstzerstörung und Liebeswahn flüchtet.  Ein Stoff, den Regisseur Volker Lippmann umstandslos ins Hier und Jetzt befördert. Das Thema ist zeitlos, hier braucht es keine großen Verrenkungen.

 

Das Setting: eine Party. Laute Musik, ausgiebiges Getanze, Discokugel. Desiree und Marie feiern ihren Uni-Abschluss. Dann: Musik aus, Licht an, Spot auf die beiden jungen Frauen. Desiree ist lebensmüde, sie schwärmt von ihrer Kindheit, sehnt sich nach Nähe, verlassen von ihrem Freund sucht sie diese nun bei Marie. Die beiden schreien sich an und knutschen, stoßen sich ab und umarmen sich.

 

In kurzen Szenen gewährt Lippmann Einblicke in die Leben von sieben jungen Menschen, die die so genannte »Krankheit der Jugend« in sich tragen. Schnell wird die Marschrichtung klar: Hier wird geklotzt, nicht gekleckert. Hier wird gestritten, geschlagen, geküsst und gevögelt. Jeder mit jedem, reihum. Küsse als Provokation, Küsse als Machtspiel, Küsse aus Langeweile, aus (Selbst-)Mitleid. Bloß nie aus Liebe.

 

Da ist zum Beispiel der geschniegelte Freder, in Lackschuhen und rotem Anzug, der mit jedem ins Bett geht um seine Macht zu spüren. Dann ist da die kleine beschränkte Lucy – hervorragend gespielt von Sandra Kouba – die küsst, um ein kleines bisschen Zuneigung zu erhaschen. Dann ist da Desiree, die küsst, um ab und an ein paar Lebensgeister in sich zu spüren. Petrell und Irene schließlich knutschen – aus allen möglichen Gründen.

 

Die sieben laufen umher wie Bomben, die ständig detonieren: Schreie, Schläge, unsentimentaler Sex – das sind die Mittel, mit denen Lippmann den Frust der jungen Leute bis ins Unerträgliche überzeichnet. An der einen oder anderen Stelle hätten leisere Töne mehr Wirkung erzielt.

 

Was steckt hinter der Lethargie? Worin liegt die Ursache für das ekstatische Verhalten? Welche Gedanken werden hinter der aggressiven Fassade gedacht? Offene Fragen, die im Theater Tiefrot leider gar nicht erst gestellt werden.