»Es geht nicht um Realismus, sondern um Glaubwürdigkeit«

Vorsprung durch Technik: John Lasseter über den neuen Pixar-Film »Merida«, den Disney-Konzern und das Verhältnis zwischen Künstlern und IT-Spezialisten

StadtRevue: Merida ist eine schottische Prinzessin, die keine mehr sein will. Spielen Sie mit den Stereotypen des klassischen Märchenfilms?

 

John Lasseter: Vor einigen Jahren haben sich alle Studios von ernsthaft erzählten Märchen abgewandt. Keiner wollte mehr solche Geschichten verfilmen, weil man glaubte, dass das Publikum über diese Art des Geschichtenerzählens hinweg ist. Ich bin da vollkommen anderer Meinung. Das Publikum liebt Märchen, man muss sie nur gut genug erzählen. Wir haben darüber hinaus alles getan, um ein traditionelles Märchen möglichst originell zu gestalten. »Merida« soll klar und deutlich als Pixar-Film erkennbar sein.

 

Disney und Pixar sind mittlerweile ein Unternehmen. Wie beeinflussen sich die beiden gegenseitig und wo grenzt sich Pixar bei »Merida« von Disney-Traditionen ab?

 

Nachdem wir die Arbeit an »Merida« begonnen hatten, ist Pixar von Disney aufgekauft worden und ich wurde zum künstlerischen Leiter der Animationsabteilung von Disney berufen. So haben wir das Märchen wieder zu Disney zurückgebracht. Dort liefen gerade die ersten Vorbereitungen zu »Rapunzel«, auch eine starke Frauenfigur. Aber im Kern geht es da um eine typische Märchenromanze, während in »Merida« die Beziehung einer Prinzessin zu ihrer Familie im Vordergrund steht.


Es geht um einen Mutter-Tochter-Konflikt.

 

Diese Beziehung glaubwürdig zu gestalten, war für uns eine besondere Herausforderung. Schließlich wollten wir nicht bloß eine Jugendliche zeigen, die sich mit ihrer Mutter in den Haaren liegt. Eltern versuchen all ihre eigenen Lebenserfahrungen an ihre Kinder weiterzugeben und Teenager rebellieren dagegen an. Da gibt es viele Situationen, in denen es alle gut meinen und trotzdem alles schief geht – das wollten wir in »Merida« herausarbeiten.

 

Wie schafft man es, diese Emotionen auch nach der Verwandlung der Mutter in eine Bärin darzustellen?

 

Bei einem guten Trickfilm kann man den Ton wegdrehen, und man versteht trotzdem, was vor sich geht. Mir geht es darum, Geschichten visuell zu erzählen. Dialoge sind wichtig, aber nicht die Hauptsache. Als wir überlegt haben, dass sich die Mutter verwandelt, war ziemlich schnell klar, dass sie keine menschliche Stimme haben soll. Auf der einen Seite sollte die Mutter im Bären erkennbar sein, auf der anderen verwandelt sie sich zwischenzeitlich in ein wildes Tier. Das mussten wir allein durch die Bewegungen vermitteln. Das ist die Kunst der klassischen Animation.

 

Was an »Merida« besonders beeindruckt, ist die visuelle Textur des Films, Elemente der Natur werden sehr genau und farbenprächtig simuliert. Wie haben Sie diesen Look entwickelt?

 

Diese Textur entstand auf der Basis ausgedehnter Recherchen. Unser Team ist nach Schottland gefahren und hat verschiedene Aspekte der Natur dort genau studiert. Als wir mit dem Projekt anfingen, hatten wir keine Ahnung, wie wir das bewerkstelligen sollten. Aber mit der Arbeit an »Cars 2« haben wir einen enor­men technologischen Fortschritt erreicht und konnten dadurch auch für »Merida« eine viel komplexere visuelle Gestaltung entwickeln. Für uns ist die Aufmerksamkeit gegenüber den Details sehr wichtig. Dabei geht es nicht unbedingt um Realismus, sondern um Glaubwürdigkeit. Wir woll­en, dass das Publikum visuell mitgerissen wird und Schottland nicht nur Kulisse ist, sondern quasi zu einer eigenen Figur wird.


Erfahrungsgemäß leben Techniker und Künstler in zwei verschiedenen Welten.
Wie bringen Sie bei Pixar die beiden Pole zusammen?

 

Ich habe als Animateur ziemlich schnell verstanden, dass ich nie und nimmer lerne, was IT-Fachleute können. Aber ich habe auch begriffen, dass ihnen nicht gelingt, was ich kann: eine Figur durch Animation zum Leben zu erwecken und ihr allein durch ihre Bewegungen eine Persönlichkeit ein­zuhauchen. Deshalb ist die enge Verzahnung von Kunst und Technologie für mich ein zentrales Ele­ment bei Pixar. Die Möglichkeiten, die sich durch die Technologie eröffnen, bringen Ideen hervor, an die ich vorher nie gedacht hätte. Umgekehrt werden die Tech­niker durch die künstlerischen Ansprüche zu Neuentwicklungen angespornt. Deshalb ist es für uns wichtig weit weg von Los Angeles und Disney  zu arbeiten  in der San Francisco Bay Area, wo im Silicon Valley die ganze computertechnische Forschungsarbeit stattfindet. Es geht darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem alles möglich ist. Bei Pixar sagt keiner »Das können wir nicht machen«. Wir probieren solange herum, bis wir einen Weg gefunden haben.


Die Wirtschaftskrise geht an der Filmindustrie nicht vorbei. Die Zeiten, in denen man sich im Schoß eines großen Konzerns vollkommen sicher fühlen konnte, sind vorbei. Disney hat gerade mit »John Carter« einen Kassenflop gehabt. Sehnen Sie sich manchmal nach den unabhängigen Pixar-Zeiten zurück?

 

Ich bin gern bei Disney. Für uns war im Zuge der Übernahme das Wichtigste, dass wir bei Pixar unsere eigene Kultur bewahren. Wir arbeiten, wie gesagt, weiterhin weit weg von Disney. Ich will nicht, dass Pixar sich anpasst, aber es ist auch gut, Teil dieses großen Konzerns zu sein, der wie kein anderer seine Figuren durch Öffentlichkeitsarbeit, Merchandising oder Themenparks am Leben hält. Disney respektiert die Einmaligkeit von Pixar und lässt uns ziemlich unabhängig agieren.