Ingeborg der Lentz ist da
Klagenfurt als Formel-1-Rennen und Fußballspiel. Das sind die sportlichen Metaphern, mit denen der Gewinner des 25. Ingeborg-Bachmann-Preises und FC-Köln-Fan Michael Lentz die Atmosphäre dort beschreibt. »Man sitzt da und bekommt plötzlich Muffensausen, es spielt die Psyche verrückt, oder man wird unerträglich müde«. Aber er mag solche »Erprobungszustände« und hat, als erfahrener Slammer, mit der Medienpräsenz ohnehin keine Berührungsängste. In seinen »neuen anagrammen « und dem Prosaband »oder« (beide 1998) erwies sich der 1964 in Düren geborene Autor bereits als einer der interessantesten seiner Generation. Mit »Muttersterben« reichte er beim immer noch wichtigsten Literaturwettbewerb im deutschsprachigen Raum einen Beitrag ein, der nicht nur die Juroren beeindruckte.
»Mutter verschwand am zwanzigsten august neunzehnhundertachtundneunzig gegen dreiundzwanzig uhr und fünfzig minuten«. Ein kühler, lakonischer Einstieg für ein Protokoll über den langsamen Tod der eigenen Mutter, die 1998 an Krebs starb. Formal wirkt der Text vielleicht konventioneller als das, womit viele den Namen Lentz verbinden: die akustische Literatur. Das Sujet wirke disziplinierend, so der Autor, der sich auf den Vortrag in Klagenfurt auch durch das Studium von Nachrichtensprechern im Fernsehen vorbereitet hatte.
Der Handlungs- oder besser Erinnerungsstrang der Erzählung, die zu einem Zyklus von insgesamt vier Texten gehört, wird immer wieder von der Sprache überwuchert, dem eigentlichen Protagonisten oder besser Antagonisten der Erzählung: »Notate. Körpersprache. Von Mutter als etwas unediertem zu sprechen. Fragment, randglosse. Bahnung, riss und zug. Form und bruch. schneise und strich. Eine krankheit ist ja immer auch eine krankheit des bewußtseins.« Der Versuch, Trauer und die Angst vor dem Tod mit der selbst befallenen Sprache zu bannen, so auch die Biografie der Mutter zu retten, bestimmt die Dynamik des Textes.
Einzelgänger sind es, die Lentz in der Literatur mag, wie Bernhard, Beckett und Robert Walser, aber auch Zeitgenossen wie Kathrin Röggla oder Norbert Niemann. Doch heißt dies für
ihn nicht Isolation. Schreiben heute, so Lentz, müsse sich formal wie inhaltlich mit den beschleunigten Rhythmen der Gegenwart auseinander setzen, »will es nicht in waldschratsartiger Nostalgie erstarren.«
Auf welcher theoretischen Basis er bei seinen Schwellenerkundungen zwischen Musik und Sprache (2002 erscheint »Zungendresche. Sprachakte« als Buch mit CD) operiert, das macht der promovierte Germanist auch in seiner Dissertation zur »Lautpoesie nach 1945« deutlich. Mit über tausend Seiten ein fast enzyklopädisches Werk, erschienen letztes Jahr in der edition selene, wie alle seine Bücher. Eine Studie, in der man über Begriffe wie Lettrismus und Ultralettrismus ebenso Auskunft erhält wie über das »Tonbandgerät als Kompositionsmaschine«. Was er an Autoren wie Isidor Isou (ihm und der Stadt Paris widmet er sich auch in dem gerade erschienenem Erzählband »Es war einmal«) und Franz Mon oder zeitgenössischen Komponisten wie J. A. Riedl belegt, (zu dessen Ensemble der Saxofonist Lentz gehört) ihr »materialästhetisch reflektiertes, avanciertes Sprachbewußtsein«, ist Moment auch der eigenen Poetik. Ebenso wie die Überzeugung, Literatur nicht als tagespolitisches Instrument zu begreifen, sondern als einen Affront »gegen das weiße Rauschen medialer Sprachverwaltung«.
pop & poets: Michael Lentz liest aus »Muttersterben« & neuen Anagrammen. Musik: Ralph H. Christoph. Samstag, 13.09., Studio 672 im Stadtgarten, 22 Uhr.
StadtRevue verlost 5x2 Gästelistenplätze. Post oder Mail bis 10.9. an verlosung@ stadtrevue.de, Stichwort: »Muttersterben«.