Erhebt Vorwürfe: Oliver König, Sohn des Soziologen René König, Foto: Manfred Wegener

»Ich bin froh, dass mein Vater das nicht mehr erlebt«

Die Nachlassgeber, die beim Archiveinsturz 2009 geschädigt wurden, begehren gegen die Stadt

auf. Jetzt haben sie eine Initiative gegründet

Herr König, Sie haben eine »Interessensgruppe der Vor- und Nachlassgeber des Historischen Archivs« mitbegründet. Was sind das für Menschen und warum engagieren sie sich? Das sind sehr unterschiedliche Leute, vom älteren Kölner Stadtadel bis zum ehemaligen Kommunisten. Sie alle eint, dass sie ihren Nachlass oder Vorlass, also einen Nachlass zu Lebzeiten, durch den Stadtarchiv-Einsturz am 3. März 2009 verloren haben. Und dass sie sich von der Stadt Köln schlecht informiert fühlen. Seit Jahren. Wir haben nach wie vor den Eindruck, die Wahrheit nur scheibchenweise zu erfahren, und auch nur, wenn wir Druck machen.

 


Der Einsturz ist ja nun nicht mehr rückgängig zu machen. Was fordern Sie für die Zukunft? Die Stadt Köln muss gegenüber allen Geschädigten von der so genannten Verjährung absehen. Die Zeichen hierfür stehen gut. Die tritt Ende des Jahres ein, dann hätten wir Nachlassgeber keine Schadenersatzansprüche mehr. Und wir fordern die Stadt auf, mit den Vor- und Nachlassgebern anders umzugehen, sie einzubeziehen und endlich Transparenz zu schaffen.

 


Auch der Nachlass ihres Vaters, des Soziologen René König, befand sich im Archiv. Ich habe jetzt eine Liste vom Archiv bekommen, auf der jeder Gegenstand, der zugeordnet werden konnte, registriert ist und nach einer Schadensklasse eingestuft wurde. Im Vergleich zur ersten Liste, die ich vor einem Jahr bekommen habe, ist die neue recht umfangreich. Die Schäden sind demnach meist leicht oder mittelschwer, wenn man den Klassifizierungen trauen kann. Das schafft nun etwas Transparenz, es ist aber unklar, welchen Ausschnitt wir im Gesamtnachlass vor uns haben. Ich vermute, erst ein Drittel ist durchforstet. Zudem liegen die Unterlagen bundesweit verstreut in Dutzenden von Asylarchiven. Ich arbeite gerade an einem Briefwechsel meines Vaters und müsste Einblick nehmen. Ich fürchte aber mittlerweile, dass ich den Nachlass meines Vaters in absehbarer Zeit nicht mehr in den Händen halten kann.

 


Was bedeutet für Sie dieser Verlust? Über meinen Vater und seine Arbeit anhand seines Nachlasses zu forschen, ist erstmal zunichte gemacht. Ich bin froh, dass mein Vater das nicht mehr erlebt hat. Mein Gedanke nach dem Einsturz war: Jetzt hat der Krieg — die Unglücksstelle sah ja aus wie nach einem Bombenkrieg — ihn doch noch erwischt. Größtenteils war es ein wissenschaftlicher Nachlass mit Tagebüchern, handschriftlichen Manuskripten und Briefen. Als Nachlass hat er öffentlichen Wert, wir haben ja nicht das Archiv als Abstellkammer genutzt.

 


Jetzt klingen Sie recht wütend... Ich habe mit älteren, schon gebrechlichen Nachlassgebern gesprochen. Die sind teilweise richtig traumatisiert. Das sind Leute, die durch den Einsturz quasi noch zu Lebzeiten getilgt wurden. Die hatten die Arbeit ihres Lebens der Stadt anvertraut. Jetzt ist mehr oder weniger alles verschwunden. Nach dem Einsturz teilte die Archivleitung mit, man solle keine Anfragen stellen, weil man sie damit vom Arbeiten abhielte. Es ist unverschämt und dumm, uns so vor den Kopf zu stoßen.

 


Dass man nach dem Einsturz überfordert ist, ist nachvollziehbar. Ist die Kommunikation in den letzten Jahren nicht besser geworden? Nein. Es war eher so, dass man sich nach ungefähr einem Jahr eine offizielle Lesart zurecht gelegt hat: Da wurden Zahlen genannt, deren sachliche Basis unklar ist. Es heißt, etwa 95 Prozent der Materialien seien geborgen, davon bloß 35 Prozent mit schwersten Schäden. Ich aber glaube, so werden die tatsächlichen Verluste kaschiert. Mich stimmt misstrauisch, dass die Zahlen sich seit über zwei Jahren nicht verändern. Diese Zahlen, die gebetsmühlenartig wiederholt werden, bleiben für mich undurchsichtig.

 


Tatsache ist aber doch, dass viel mehr Archivalien gerettet werden konnten als zunächst befürchtet. Es gibt zum einen die physischen Schäden, etwa durch Wasser oder Staub. Zudem sind die Bestände völlig durcheinandergewirbelt worden. Das heißt, die Zuordnung ist ein weiteres Problem. Die Akten sind als solche völlig unbrauchbar, wenn niemand weiß, was wozu gehört. Dafür braucht man Leute, die die Nachlässe sehr gut kennen. Manches kann man als Externer zuordnen, etwa wenn eine Signatur oder ein Name draufsteht. Das war aber bei einem Großteil nicht der Fall. Es heißt, dass sechzig Prozent der Unterlagen nicht erschlossen waren.

 


Das hört sich an, als ob die nächste Katastrophe folge. Man hätte von Anfang an die inhaltlichen Kompetenzen der Leute bei der Zuordnung des Materials nutzen und eine Projektgruppe ins Leben rufen müssen: Natürlich mit Archivleitung und den Mitarbeitern, vor allem aber auch mit externen Experten wie Vor- und Nachlassgebern, Wissenschaftlern, die lange mit dem Material geforscht haben, und ehemaligen Mitarbeitern. Diese drei Gruppierungen kennen die Materialien sehr gut, werden aber draußen gehalten bei der Expertise. Ich kenne viele Leute, die ihre Hilfe angeboten haben.

 

Haben Sie eine Erklärung dafür? Wenn sie die Leute beteiligen, erhalten die Einblick in die Arbeit des Archivs. Die tatsächliche Situation würde transparent, und dann könnte Kritik aufkommen. Das ist politisch ganz klar nicht erwünscht.

 


Sie klingen sehr kämpferisch. Glauben Sie, etwas erreichen zu können? Ist für die breite Öffentlichkeit das Thema nicht schon abgehakt? Der  Protest an den Jahrestagen hat abgenommen. Das Ereignis hat die Kölner Bürger ziemlich durchgerüttelt und man muss jetzt dafür sorgen, dass es nicht wieder im alltäglichen Geschäft versinkt. Wir müssen von verschiedenen Seiten den Druck aufrecht erhalten. Aber die politische Einsicht darüber, dass dort ein Riesenschaden entstanden ist, der nicht rückgängig zu machen ist, der wird kollektiv auch noch verdrängt. Die Vorstellung, man könne mit genügend Geld alles wieder gut machen, halte ich für eine gigantische Verleugnung.

 


Eine »Stiftung Stadtgedächtnis« war angetreten, die benötigten Finanzen von Spendern zu beschaffen... ... und ist gescheitert! Und zwar, weil die möglichen Geldgeber auch wahrnehmen, dass die Stadt hier eine Art Fassadenpolitik betreibt. Wenn man einen solchen Umgang mit Informationen pflegt, ist es doch klar, dass man keine Gelder bekommt. Es wurde ja gerade bekannt, dass die Stiftung in neun Monaten bloß 35.000 Euro gesammelt hat. Damit ist das Projekt grandios gescheitert. Das ist ein Misstrauensvotum gegenüber der Stiftung und der Stadt!

 

Dr. Oliver König,  Jahrgang 1951, ist Mit­initiator der »Interessensgruppe der Vor- und Nachlassgeber des Historischen Archiv«. Der Soziologe arbeitet derzeit an der Fachhochschule Köln, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften. Beim Einsturz ist auch der Nachlass von Königs Vater verschüttet und zerstört worden. René König (1906–1992) war einer der zentralen Personen der Wiederbegründung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Er war von 1949 bis 1974 Prof. für Soziologie in Köln, ab 1955 auch Direktor des Forschungs­instituts für Soziologie und von 1955 bis 1985 Herausgeber der »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie«.