Seltsame und fremde Welten
»Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle / Welch ein Singen, Musizieren, Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern! / Frühling will nun einmarschiern, kommt mit Sang und Schalle.« Wer diese Textzeilen von Hoffmann von Fallersleben nicht kennt, hat keine bundesdeutsche Grundschule besucht. Gern gesungen wurden sie nur von Pastorenkindern. Für den Rest der Klasse waren Volkslieder dieses Schlages schlichtweg ein Graus, langweilig und abgestanden. Die richtige Musik kam aus dem Radio oder vom Plattenspieler der älteren Geschwister. Es musste rocken, deutsche Volkslieder waren Relikte aus Großmutters Kulturbeutel.
Wenn sich der 90 Jahre alte Wladyslaw Kozdon in Arne Birkenstocks und Jan Tengelers Dokumentation »Sound of Heimat« an dieses Volkslied erinnert, kommen ihm andere Gedanken. Er saß als Jugendlicher im KZ Buchenwald. Dort hatten die Häftlinge »Alle Vögel sind schon da« zu singen, wenn der Fluchtversuch eines Lagerinsassen gescheitert war. Dass die Nazis nichts anderes als Marsch- und Volksmusik als Unterhaltungsmusik zuließen, hat beide musikalischen Genres nach dem Krieg in Deutschland desavouiert; das eine zu Recht, das andere nicht, wie Hayden
Chisholm bei seiner wunderbaren filmischen Reise durch die Republik zeigen kann. Der neuseeländische Jazz-Saxofonist ist der Protagonist dieses »Roadmovie zur Volxmusik«, wie es im zweiten Untertitel heißt. Die Reise beginnt in Köln. Auf der Gladbacher Straße. Dort wird in der Kneipe Weißer Holunder zu Mitsingabenden eingeladen, an denen eingestimmt wird in bündische und kölsche Lieder. »Ich kann nicht gut singen«, sagt die Wirtin im Film, »aber wenn man gemeinsam singt, ist das egal.«
Hayden Chisholm reist weiter, lernt im Allgäu das Jodeln, trifft an der Nordseeküste Rainer Prüß, einst Folk-Musiker bei Liederjan, heute Unternehmensberater, der von peinlicher Stille in irischen Kneipen berichtet. Die immer entstand, wenn deutsche Musiker um ein deutsches Volkslied gebeten wurden. Rudi Vodel verteidigt mit seinem Bandoneon und singend das Liedgut des Erzgebirges, das sich immer noch von der SED-Kulturpolitik erholen muss. Begriffe wie »Gott« oder »König« in alten Liedern waren unerwünscht, lieber sollte doch von »Traktoren« gesungen werden.
Chisholm zieht immer weiter und verweilt, wo gesungen wird. Inspiriert von Cho Sung-hyungs Doku »Full Metal Village« will auch »Sound of Heimat« seltsame und fremde Welten begreifen — und lieben lernen. Es soll nicht nur bei einer liebevollen Annäherung bleiben, Birkenstock und Tengeler sagen auch: Leute, traut euch und singt eure Lieder! Nur der Mut, Volksmusik ohne ironisierendes »x« zu schreiben, der fehlte ihnen dann doch.