Kopfgeburten in Aktion

Wie Suse Wächter und andere Regisseure das Puppentheater neu erfinden

Je weiter man gen Osten fährt, desto selbstverständlicher wird diese Tradition im Erwachsenentheater. Im Westen denkt man eher an die Augsburger Puppenkiste, an niedliche Unterhaltung für Kinder oder die Muppet Show, wenn das Stichwort »Puppentheater« fällt. »Tri Tra Trullala, der Kasperle ist wieder da.«

 

Suse Wächter, eine der bekann--testen Puppenspielerinnen Deutschlands und häufiger Gast am Schauspiel Köln erzählt, »wenn ich mich irgendwo vorstellen soll, dann haben Leute oft die Vorstellung von Marionetten- oder Kasperletheater, weil man das gerade noch so aus seiner Kindheit kennt.« Dabei ist das alte Theatermittel heute eine richtungweisende und äußerst lebendige Spielart. Nach einer Bühnenkunst, die sich so unaufgeregt aber unaufhaltsam entwickelt und dabei so viele Grenzen überschreitet, muss man lange suchen. Mühelos bedient sich das zeitgenössische Puppen- und Figurentheater bei anderen Genres, dem Comic oder der Medienkunst und schafft sich mit frischer Ästhetik seine eigenen Stoffe. Dabei gibt es die Hierarchie zwischen Mensch und Puppe nicht mehr. Auf der Bühne erlebt der Zuschauer künstliche Wesen, die die Rolle des Menschen hinterfragen — und umgekehrt.

 

Zum Beispiel in den  Regiearbeiten des Schweizers Jarg Patakis mit seinen lebensgroßen Avantgarde-Puppen. Patakis schöpft die surrealen Qualitäten seiner Figuren in seinen Stücken fulminant aus. In Köln kennen wir die Animationen von Suse Wächter: ihr fast schon legendäres Panoptikum historischer Persönlichkeiten in »Helden des 20. Jahrhunderts«, das im reinen Schauspielertheater in dieser Qualität und Quantität nicht möglich wäre. Oder ihr Hysterienspiel »Aggripina — die Kaiserin aus Köln«, in dem das vermeintlich machtgierige Luder gepaart mit anderen hüfthohen Untoten mit Volldampf durch die Szenen tobt bis der Dom explodiert.

 

»So eine Puppe kann wie eine Kopfgeburt sein, eine Idee, eine Phantasie, die plötzlich sichtbar wird«, sagt Wächter. »Der Zuschauer wird dazu verführt, die Illusion anzunehmen. Aber man kann den Puppen nur eine bestimmte Zeit Leben einhauchen, so dass das Publikum verführt bleibt von dem Schein. Irgendwann gewöhnt man sich an den Anblick und sieht wieder das, was es objektiv ist: eine Puppe, die aus Material besteht. Deswegen wechsele ich zwischen künstlicher Figur und Schauspielern«, erklärt sie ihre Mischästhetik.  

Dieser schöpferische Verwandlungsakt von Materie ins Menschliche beziehungsweise Lebendige, den die Puppenspielerin als »Magie« beschreibt, macht die Faszination des Genres aus. Plötzlich akzeptieren wir Tiere, die sprechen, Monster, Riesen oder Zwerge. Diese belebten Figuren scheinen uns auf einmal in Größe und Form selbstverständlich, gar plausibel. Unsere Fantasie springt an, die Wahrnehmung entgrenzt sich. Der Puppenspieler kann dabei ganz in den Körper der Puppe versinken, ihn vor sich her tragen oder zu seinem Spiegelbild werden lassen, als Alter Ego. Das Spektrum der  Variationsmöglichkeiten dessen, was wir unter »Körper« auf der Bühne verstehen, geht unter dem Einsatz von Puppen weit über das hinaus, was mit Schauspielern möglich ist.

 

Genau wie die Stoffe, an denen sich Wächter und ihre Genre-Kollegen abarbeiten, und die sich immer weiter ausdifferenzieren. Seit Jahren gut zu beobachten beim internationalen Figurentheater-Festival »Fidena« in Bochum, wo man ein breites Spektrum exquisiter Arbeiten erleben kann. Etwa »While We Were Holding It Together« der Performancekünstlerin Ivana Müller, ein Stück, dass sich wesentlich in den Köpfen der Zuschauer abspielt oder das virtuose Figurentheater von Neville Tranter, der 2009 Punch (Englisch für Kasper) und Judy nach Afghanistan schickte.

 

Zur Saisoneröffnung am Schau--spiel Köln darf man sich dieses Jahr wieder auf ein Spektakel von Suse Wächter freuen: »Der Abend aller Tage.« Die Puppenspielerin hat beschlossen, die Welt untergehen zu lassen: »Jetzt gibt es im Dezember dieses Weltende-Datum der Maya und man könnte meinen, wir sind im direkten Countdown. Wir tun jetzt, als ob die Welt tatsächlich untergeht. Wir legen uns die Frage vor, ob es sich zu leben lohnt. Es geht im Prinzip um ein Tabula rasa, darum, sich auf das Ende vorzubereiten. Uns beschäftigen Themen wie Endlichkeit auf dem Planeten Erde und unsere narzisstische Kränkung durch den persönlichen Tod.«

 

Das Puppenspiel, so scheint es, ist auf der großen Bühne angekommen. In der Manier von Suse Wächter ist es nur eine Seite der Spielart. Auch Regiekollegen aus dem Schauspiel greifen in ihren Arbeiten immer öfter zur Puppe: Herbert Fritsch oder Nicolas -Stemann. Mit der Berliner Puppengruppe Das Helmi holte Stemann die Wesen auf den großen Spielplatz Theater. Stemann setzt in seinem gefeierten »Faust«, der zur Inszenierung des Jahres gewählt wurde, die Helmi-Schaumstoffgesellen sogar als zentrale Protagonisten ein: Die schräg-schön-scheußlichen Knautschgesichter spielen unter anderem die unbeirrbaren Goethe-Experten. Derzeit scheint für Regisseure das Puppenspiel die Möglichkeit zu sein, gegenwärtiges Theater wieder anders zu denken, weil sie, wie Stemann in einem Interview gesagt hat , weder dramatische Figuren noch Charaktere seien, sondern die Welt bedeuteten.