»Es fühlte sich an wie eine Affäre«
»Ich hatte nie vor, einen Film zu machen. Mein ganzes Leben gilt eigentlich der Musik. Dass ich drei Jahre auf den Film verwandt habe, ist ungezogen. Es fühlte sich an wie eine Affäre. Ich fühlte mich unloyal. Meine größte Angst nach dem Film war: Wenn ich zu der Liebe meines Lebens zurückkehre, wird sie mich dann noch mit offenen Armen empfangen? Oder habe ich sie dann verloren?«
Aber auch die Arbeit am Soundtrack zu Lars von Triers »Dancer in the Dark« war eine neue Erfahrung für Björk, da es nicht um die Vermittlung ihrer Gefühle, sondern die der von ihr gespielten Figur Selma ging. Und dennoch war sie froh, als die Dreharbeiten und die Soundtrackproduktion beendet waren. Ihr neues, fünftes Album, »The Vespertine« hatte Björk schon vorher begonnen, und einige Songs sind sogar während der Dreharbeiten am Set entstanden. Wenn sie nach den aufwühlenden Shootings ins Hotel kam, war das Songschreiben der Katalysator, um die Strapazen zu verarbeiten: »Durch das Schreiben konnte ich gut schlafen.«
Eine Art Lösungsmodell
Nach der Promotionarbeit für den Film intensivierte sie die Arbeit an »The Vespertine«. Antwortete sie vor einem Jahr auf die Frage nach der Ausrichtung des neuen Albums noch, dass es völlig anders werden würde als »Selmasongs«, so spricht das Ergebnis eine andere Sprache: Björk hat die soundtrackartige Atmosphäre von Selmas Welt hinübergetragen in ihre eigene Welt. Das war zu erwarten, da sie sich dem Projekt mit Haut und Haaren verschrieben hatte. Und der Einfluss des Films geht noch weiter: Dadurch, dass Björk die Dreharbeiten als schmerzvoll empfunden hat, stellt das Album eine Art Lösungsmodell für diesen Schmerz dar. Sie spricht davon, dass »The Vespertine« positiver ist und für das steht, woran sie glaubt. »Die meisten Songs fangen problembeladen an, zeigen dann aber eine Lösung auf und enden in einem Hochzustand.« Ein Prozess, der komplett konträr zu Lars von Triers Ansatz angelegt ist. Während dieser das menschliche Scheitern als notwendige Vorlage für das von ihm gewünschte Märtyrertum setzte, glaubt Björk an eine Wendung zum Guten: »Ich bin überzeugt, dass man durch das Album zum Reflektieren angeregt wird. Du beschäftigst dich durch das Album mit deinem Leben.«
Bei unserem Gespräch betont Björk, für wie wichtig sie es hält, aktiv zu sein: »Es ist besser, etwas zu tun, seine Energie sinnvoll einzusetzen, als abzuwarten. Es hilft beim Überleben. Wer agiert, bestimmt selbst, wie er mit der Welt interagiert.« Selbstbestimmung war immer wichtig für Björk. Bereits mit 14 gründete sie ihre ersten Punkbands Exodus, Tappi Tikarrass (frei übersetzt: Korken im Arsch der Nutte) und Kukl. Als der Punkgestus dieser Projekte zu sehr in Regeln verpuffte, gründete sie mit Einar Örn die Sugarcubes, jene legendäre Crossoverband mit ihrem Mix aus Rock, Dance und Pop. Und als sich die Band in Routine zu verlieren schien, war wieder sie es, die die Initiative ergriff, einen Schlussstrich zog und sich auf Solopfade begab.
Matmos als neue Partner
Für ihre letzten Alben arbeitete Björk mit Mark Bell, Ex-Mitglied des englischen Techno-Duos LFO, zusammen. Bell beendete ihre Arbeitsbeziehung aber im letzten Jahr, als er von Depeche Mode das Angebot bekam, deren Album »Exciter« zu produzieren. Für Björk ein schwerer Schlag. Lange sah es so aus, als ob sie keine Bindung mehr eingehen würde – bis sie das aus San Francisco stammende Laptop-Elektronik-Projekt Matmos kennen lernte, das zuletzt mit dem Album »A Chance to Cut is a Chance to Cure« zu begeistern wusste: »Ich hatte sie gefragt, ob sie einen Song von ›Homogenic‹ remixen wollen. Danach sind wir in Kontakt geblieben, haben uns viel gemailt, uns zum Trinken getroffen – wir haben viel gemeinsam. Als ich im letzten November beschloss, auf Tour zu gehen, habe ich Drew und Martin kontaktiert und gefragt, ob sie nicht mitkommen wollen. Mittlerweile sind sie mit ihrem Studio nach Manhattan gezogen, und wir teilen uns ein Loft. Sie kamen allerdings erst nach Manhattan, als das Album fast fertig war. Sie haben einige Geräusche beigesteuert, aber wir haben diesmal keine Songs zusammen geschrieben. Für das nächste Album schreiben wir allerdings zurzeit gemeinsam Songs. Die Zusammenarbeit ist so ähnlich wie früher mit Mark, da waren wir auch gleichberechtigte Partner, die miteinander interagierten.«
Als Drew Daniel und Martin Chase einstiegen, waren »die Melodien und Orchesterparts bereits ausgearbeitet«, wie Daniel erzählt. »Wir haben von ihr mp3s geschickt bekommen und uns dann Rhythmen ausgedacht. Danach ist sie für eine Woche nach San Francisco geflogen, um mit uns in unserem Homerecording-Studio aufzunehmen. Später sind wir nach London geflogen, um ihr bei den Arrangements zu helfen. Jeder Track besteht aus 100 Spuren. Wir haben mit ihr diskutiert, was wo sein Plätzchen findet.« Und Chase ergänzt: »Sie war die Produzentin des Albums. Sie hatte definitiv das letzte Wort. Aber da sie mit Leuten arbeitete, die es gewohnt waren, dass alles groß, eingängig und poppig klingt, kam uns der Part zu, dafür zu sorgen, dass alles ein bisschen ruhiger, bescheidener wurde. Sie wollte das Unmögliche: ein Orchester, das intim klingt.«
Mit diesem Wunsch nach Intimität geht auch Björks neuer Ansatz für die Konzerte einher: Aus dem gemeinsamen Wohnen mit Matmos entstand die Idee zu Wohnzimmerkonzerten in ihrem Loft: »Ich singe ohne Mikrofon. Ich werde das auch auf der nächsten Tour so machen. Ich möchte eine intime Atmosphäre kreieren statt dieser großen Media-Soundsystem-Illusion, bei der es immer nur darum geht, das andere Ende der Welt zu erreichen, mit dem was man macht. Ich bin mehr daran interessiert, zu dir auf diesem Sofa zu spielen, zu singen. Es ist viel reizvoller. Die nächste Tour wird so werden – und genaugenommen geht es darum auch auf diesem Album.«
Beats von neun verschiedenen Leuten
Durch Zufall hat es auch Martin Gretschmann (aka Console) auf das Album geschafft. Björk hatte »Rocket in the Pocket«, das letzte Album des Notwist-Mitglieds, geschenkt bekommen und es während der Dreharbeiten zu »Dancer in the Dark« quasi permanent gehört. »Es half mir beim Überleben in dieser schwierigen Phase.« Nach den Dreharbeiten sprach sie Gretschmann an, um mit ihm gemeinsam Parts neu aufzunehmen: »Ich war mir lange nicht sicher, ob ich ihn kontaktieren sollte. Ich habe noch nie Musik von jemand anderem eingekauft. Normalerweise schreibe ich alle Songs selbst. Dann habe ich ihm aber doch eine E-Mail geschickt.« Überhaupt hat sie für »The Vespertine« mit vielen Leuten zusammengearbeitet, allerdings mit Ausnahme von Console und Matmos eher im Kleinen und relativ anonym: »Ich weiß auch nicht, wie es kam, aber diesmal tauchten viele Leute auf, die mir einen Beat oder ähnliches gaben. Ich hatte Beats von neun verschiedenen Leuten – und keiner von ihnen war im Studio dabei.« Auf das Album hat sich diese offene Arbeitsweise jedoch kaum ausgewirkt, es schließt atmosphärisch an »Selma Songs« an. Im Vergleich mit ihrem Gesamtwerk fällt der etwas weniger pompöse Charakter auf. Das Orchestrale wurde zugunsten zart-schräger Beats und Geräuschspuren leicht zurückgenommen. Ansonsten gibt sich Björk so verletzlich und gleichzeitig selbstbewusst wie eh und je. Das kann man auf der ersten Singleauskopplung »Hidden Place« hören und im zugehörigen Videoclip auch sehen: In dem von der feministischen Medienkünstlerin Inez van Lamsweerde inszenierten Clip sieht man nur Björks Gesicht, durch dessen Öffnung obskure Flüssigkeiten ein- und austreten.
Das persönlichste Stück des Albums ist »Pagan Poetry«: Am Ende singt sie mantraartig »I Love You« – ohne jegliche Begleitung. »Diesen Song habe ich relativ spät geschrieben, als ich zu meiner alten physischen Stärke zurück gefunden hatte. Er handelt vom Gefühl, sich wieder stark zu fühlen. Wohingegen die anderen Stücke eine Person beschreiben, deren Alltag sehr anstrengend, kräftezehrend ist und die, wenn sie nach Hause kommt, ihren Frieden will. Diese Person schätzt es, wenn jeder zu ihr nett ist, sie geküsst wird und sie ein Schaumbad nehmen kann.«
»The Vespertine« erscheint am 27.8. bei Polydor.