Theorie der Schrulligkeit

Materialien zur Meinungsbildung /// folge 130

Es ist eine Binsenweisheit, doch man muss sie immer wieder kundtun: Verstöße gegen die Etikette bezeugen nur dann einen freien Geist, wenn sie in vollem Bewusstsein begangen werden. Das ist einfach zu verstehen. Wer in einer Kunstgewerbe-Ausstellung durch eine Ungeschicklichkeit Delfter Kacheln mit den Schnallen seines Reiserucksacks zerkratzt, ist bloß ein bedauernswerter, bei fehlendem Versicherungsschutz womöglich bald verarmter Tollpatsch.

 

Wer den keramischen Plunder hingegen mit großer Geste zerschlägt und politische Parolen bellt, der mag unter psychologischen Gesichtspunkten zu bedauern sein, doch wird man mit verängstigten, wiewohl bewundernden Augen zu ihm emporblicken: Ja, er hat sich befreit vom Zwang, das Alte ob seines Alters wertzuschätzen! — Bald schon hat der Unhold eine Schar Aufgebrachter um sich versammelt, und sie tragen den Kopf des Museumsdirektors durch die Stadt. Es stimmt nicht, dass die Masse auf Sitte und Anstand pocht, sie sucht vielmehr einen, der an ihrer Statt darauf spuckt.  

 

Normverletzungen teilen sich zunächst also in unbewusste und bewusste, und jene spalten sich wiederum in bestimmte sowie unbestimmte. Erstere sind solche, die Menschen verschrecken oder aufrühren, letztere sind jene, die andere zwar zur Kenntnisnahme nötigen, ihnen aber kaum den Anlass bieten, sich dazu verhalten zu müssen. Jene unbestimmten Verstöße sind daher die dritte und unspektakulärste Weise der Normverletzung: die Schrulligkeit. 

 

Es gibt Plädoyers für die Schrulligkeit, in denen sie als poetische Verrücktheit geadelt wird. Ich aber möchte nicht barfuß durch den Regen tanzen oder Fremden ein Ständchen auf dem Didgeridoo bringen. Ich möchte auch nicht, dass andere das tun. 

 

Ich saß mit Tobse Bongartz in »Stukkis’ Gyros-Tempel«, dem Laden mit dem falschen Apostroph und der falschen Essenszubereitung. Alles troff vor Fett. Doch was mir stärker auf den Magen schlug als die leider »selbstgemachte Mayo«, war Tobses unbekümmerte Art, seinen hepatitis-falben »Friesennerz« (Bongartz) anzubehalten. Wie würdelos ist es, in geschlossenen Räumen bei Tisch wetterfeste Kleidung zu tragen! Freilich kann man auch das aushalten, und ich hätte mir statt den mampfenden Tobse auch den pseudo-hellenistischen Rauputzbewurf beschauen können, mit dem Stukki allenthalben die Wände gekleistert hat — doch was mich so fassungslos machte, war die Selbstgerechtigkeit in Tobses‘ Enthemmung. 

 

Bislang mochte ich mich über solche Schrullen nicht beschweren. Niemand sollte mich einen Kleingeist nennen. Jetzt aber bin ich es leid. Die Schrulligen sollen sich einfach mal zusammenreißen. Das ist nicht zu viel verlangt: Gesine Stabroth süßt ihren und meinen(!) Kaffee mit Honig, Oma Porz bricht bei Gewitter einfach Telefonate ab (»Der Blitz kriecht in die Ohren und explodiert im Kopf!«), und Tobse Bongartz bleibt eben beim Essen in seiner völlig bescheuerten Regenjacke sitzen, die müffelt wie nasser Bernhardiner und knirscht wie die Lederhosen eines drastisch alkoholisierten Motorrad-Clubs. 

 

Mag sein, Schrulligkeit gehört zur conditio humana. Keiner, der einige Jahrzehnte auf diesem Erdenball wandert, entkommt ihr ganz. Die Frage ist aber, ob wir die Schrulligkeit freudig bejahen oder ob wir sie zügeln wollen. Entlang dieser Frage verläuft eine Linie, und man muss sich entscheiden, auf welcher Seite dieser Grenze man stehen möchte. Im Staate der Vernunft oder in dem Land hinter den sieben Bergen, wo man berauscht von honigsüßem Filterkaffee im »Friesennerz« barfuß über Wiesen tanzt und sich gegenseitig mit seiner Ausgeflipptheit auf den Wecker geht.