Das Leben der anderen
Es quietscht wie verrückt. Rund 15 Frauen und Männer sitzen im Wohnzimmer einer Dachgeschosswohnung und versuchen, aus einem Luftballon wahlweise einen Pudel, eine Blume oder ein Herz zu formen. Eine junge Frau marschiert herum und hilft. Die meisten hier sind zwischen Anfang zwanzig und An--fang dreißig. Es gibt Mitgebrachtes: Haribo-Colorado, Apfelspalten, Flaschenbier und Salzstangen.
Das hier ist keine WG-Party, auch keine Geburtstagsfeier. Hier findet der »Austauschhafen« statt, eine Veranstaltung, die sich fünf junge Kölner ausgedacht haben. Zweimal im Monat stellen zwei Menschen irgendetwas vor, das sie gut können oder gerne machen. »Wir wollen erfahren, wie andere ihr Leben leben, was andere so machen«, erklärt Christian Wenzel.
Seit einem Jahr organisieren der 33-Jährige und seine Mitstreiter die Veranstaltung. Als Vorbild dienen die sogenannten trade schools, eine Tauschbewegung aus New York. Dort bieten Menschen ihr Wissen an und fordern im Gegenzug etwas von den Zuhörern: Ich bringe euch Tai-Chi bei, ihr bringt mir selbstgemachte Marmelade mit, so etwas. Beim »Austauschhafen« funktioniert das Ganze ohne den Tauschcharakter. »Wir wollen das Wissen umsonst verbreiten«, sagt Thorsten Merl, wie Wenzel einer der Organisatoren.
Die Bandbreite ist groß. Sie hatten schon Menschen, die über Kommasetzung referiert haben, über Sauerteig, über die Anti-Putin-Proteste in Russland oder darüber, wie man seine Steuer macht. Der Puppenspieler, der in der Serie »Käpt’n Blaubär« den Hein Blöd spielt, hat von seiner Arbeit berichtet. Ein anderes Mal erzählte ein ehemals Obdachloser vom Überleben auf der Straße. Im Prinzip kann jeder mitmachen — mit wenigen Ausnahmen. »Wir lehnen kommerziell orientierte Dinge ab«, sagt Wenzel. Das klappt nicht immer — einmal waren ein paar Jungunternehmer da, die ihren Shop für Edel-Pfeffer vorstellten.
Wie es genau wird, lässt sich vorher meist nicht sagen. Es kann mal wie ein Science-Slam sein, wenn jemand sein Fachgebiet auf unterhaltsame Weise vorstellt, mal wie eine VHS-Veranstaltung, mal wie ein privates Treffen unter Freunden. Der erste Redner des heutigen Abends erzählt ganz einfach aus seinem Leben. Er hat fünf Kinder von drei verschiedenen Frauen, nebenher Beruf und Hobbys. Wie kriegt man das alles unter einen Hut? Es ist ein hochpersönlicher Vortrag, nicht frei von Eitelkeiten, bei dem sich nicht alle Zuhörer immer wohlfühlen. Auch das kann vorkommen. »Niemand hat den Anspruch eines Expertenvortrags«, sagt Wenzel. »Es geht auch um Nichtprofessionalität.«
Die Offenheit des Formats sorgt auch für positive Überraschungen: »Der ehemals Wohnungslose hat extra einen Plattenspieler auf einem Rollwagen mitgebracht, und seine Schallplatten. Zu jeder Phase seines Lebens hat er dann einen Song vorgespielt. Das hat mich umgehauen«, erinnert sich Merl. Eine wichtige Rolle spielt der Ort, denn auch der soll das Informelle widerspiegeln. Meist finden die Veranstaltungen in einem privaten Wohnzimmer statt, auch mal im Gemeinschaftsgarten am Grünen Weg in Ehrenfeld oder in einer Kindertagesstätte in Nippes. »Wir haben einmal in einem Jugendzentrum einen Saal angeboten bekommen, sind dann aber in einen Neben-raum umgezogen. Wir wollen eher ein gemütliches Miteinander«, sagt Merl. Auch die Anzahl der Zuhörer wollen sie begrenzen — mehr als zwanzig sollen es nicht sein.
Ausweiten würden sie allerdings gerne noch die Zusammensetzung der Besucher. »Tendenziell haben wir eher junge Studierte«, so Merl. Das verwundert nicht, sind die Macher doch selber alle um die drei-ßig Jahre alt und akademisch vorbelastet. Und bislang funktionierte die Teilnahme vor allem über Mund-zu-Mund-Propaganda. Mittlerweile sind auch immer Menschen dabei, die die Veranstalter vorher nicht kannten.
So offen wie sie bei der Auswahl der Vortragenden sind, sind sie auch in Bezug auf die Zukunft. »Ich würde gerne das Konzept erweitern«, sagt Wenzel. »Mehr Exkursionen. Oder einen ganzen Hafen-Tag. Oder einen Spontan-Hafen in der U-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Piusstraße.« Zunächst reicht aber wohl das kleine Format, mit den kleinen Erfolgen und Erkenntnissen: »Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal mache in meinem Leben und es tatsächlich wie ein Hund ausschaut!«, freut sich eine Besucherin, als sie ihren Luftballonpudel präsentiert.
Weitere Infos auf austauschhafen.de>
Wer teilnehmen oder selbst Referent werden möchte, schreibt an:
koeln(at)austauschhafen.de