»Ab 35 wird man unsichtbar«
»Also, ich habe mich in diesen vierzehn Monaten Drehzeit auf jeden Fall politisch radikalisiert.« Jan Rothstein zupft seine hellgraue Jogginghose zurecht, die besser sitzt als so manches Exemplar mit Bügelfalte. »Ich bin, glaube ich, ungemütlicher geworden. Smalltalk über schwule Themen kann ich gar nicht mehr. Wenn ich bei einem Date mitbekomme, dass mein Gegenüber FDP wählt oder so ... Nee, weg damit!«
Der 32-Jährige und sein Co-Regisseur Stefan Westerwelle sind mit ihrem Dokumentarfilm »Detlef — 60 Jahre schwul« auf die diesjährige Berlinale nach Berlin eingeladen worden. Es ist sein erster Film, für den Berliner Westerwelle ist es der zweite. Die beiden haben ein intimes Porträt des älteren Aktivisten Detlef Stoffel gezeichnet, der in den 70er Jahren führender Kopf der Bielefelder Schwulenbewegung war und später als einer der Ersten einen Bioladen eröffnete. Heute lebt Stoffel immer noch in Bielefeld und kümmert sich um seine Mutter. Rothsteins Kamera begleitet ihn beim Kochen für Mutter Anneliese, bei der Gartenarbeit und am Morgen nach seinem 60. Geburtstag, wie er im Bett fernsieht.
Diesem bürgerlichen Leben setzen Rothstein und Westerwelle Zeitdokumente aus Detlefs Privatarchiv entgegen. »Wir wollten unseren Film so strukturieren, wie auch das Gedächtnis funktioniert, fragmentiert und nicht chronologisch.« Diese Erzählweise sorgt dafür, dass die anderthalb Stunden sehr kurzweilig sind: Detlef als Langhaariger bei Agitprop-Aktionen, Detlef als älterer Mann, der im Netz nach Sex-Bekanntschaften sucht. Aber keiner dieser Eindrücke dominiert den Film. »Klar stimmen auch diese Klischees«, sagt Rothstein. »Er heißt nun mal Detlef, trägt schwuchtelige Strennesse-Klamotten und hat ein promiskuitives Sexualleben. Aber unser Film zeigt den Menschen, geht über diese Klischees hinaus.«
Rothstein steht von der petrolfarbenen Vintage-Couch auf und geht zum Bücherregal. »Das eigentliche Thema des Films ist das schwule Älterwerden.« Neben dem Regal hängt ein Original-Poster des Warhol/Morrissey-Films »Trash« von 1970. Am anderen Ende des Zimmers über der Couch verendet Ingrid Bergmann als Jeanne d‘Arc auf dem Scheiterhaufen. »Dieser Jugendwahn ist zwar ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, aber unter Schwulen ist es extremer«, sagt Rothstein. »Martin Dannecker hat in seinem Buch »Der gewöhnliche Homosexuelle« geschrieben, es gebe drei Alterskategorien: Bis neunundzwanzig steht der Schwule in der Blüte seiner Jugend, danach beginnen die Jahre, in denen er sich aufs Älterwerden vorbereiten muss und ab 35 ist ein Homosexueller alt. Dann wird er auch in der schwulen Community unsichtbar.« Dies gelten bis heute, meint Rothstein. Danneckers Buch ist von 1974.
In den 70er Jahren war das sonst provinzielle Bielefeld neben Hamburg und Berlin das Zentrum der deutschen Schwulenbewegung und Detlef Stoffel »the leader of the pack«, wie Lilo Wanders im Film erzählt. Stoffels Archiv aus Filmaufnahmen, Flugblättern und Fotos der wilden Jahren ist so umfangreich, dass Rothstein und Westerwelle lange brauchten, um ihre Auswahl zu treffen. Ein Ausschnitt von 1976 zeigt eine Aktion in der Bielefelder Innenstadt: Detlef und seine Gruppe diskutieren mit alten Frauen und bierbäuchigen Männern: »Wenn ihr nicht so sein wollt, wie alle anderen, was wollt ihr denn dann? Dass alle schwul werden?« — »Das wär mal ein Anfang!« Aus heutiger Sicht wirken solche Aktionen nicht spektakulär, erst die ungläubig starrenden Passanten zeigen den damaligen Tabubruch. »Wie Lilo auch im Film sagt, viele der jungen Schwuppen heute, die freuen sich über die Freiheiten, aber wissen gar nicht, dass das alles erst erkämpft werden musste und dass es diese Geschichte gibt.«
Von Dankbarkeit zu sprechen, findet Rothstein zwar unangebracht, aber Respekt müsse man Detlefs Generation allemal entgegenbringen. Respekt, den er bei großen Teilen der viel beschworenen »Community« vermisst. Das liege zum einen am mangelnden politischen Bewusstsein und zum anderen an dieser extremen Altersphobie. »Man kann in einem Dating-Portal fast jedes beliebige Profil aufmachen, da steht dann: »keine Alten, Fetten, Schwuchteln und Spinner«. Dabei sind es neben den Alten gerade Tunten, die immer wieder an vorderster Front für uns stehen, weil sie eben sichtbar sind.« Sichtbarkeit herstellen sei ein altes Ziel der Schwulenbewegung, und das wollten sie auch mit ihrem Film erreichen, sagt Rothstein.