Staatliches Trauma
Abdulla Özkan und Attila Özer können sich noch genau erinnern an jenen Tag im Juni 2004, als an der Keupstraße die Nagelbombe explodierte. Sie waren beim Friseur, wollten anschließend gemeinsam nach München zu einem Konzert fahren. »Wir waren fertig, wollten gerade gehen. Ich habe die Tür aufgemacht — auf einmal habe ich nichts mehr gesehen und bin durch die Wucht nach hinten geschleudert worden«, erinnert sich Özkan.
»An einem Tag hat sich unser ganzes Leben verändert«, so Özer. Beide waren mehrere Monate in Kur anschließend, sind seither immer wieder krankgeschrieben. »Rücken, Kopf, Gesicht, Oberkörper, Tinnitus«, zählt Özkan seine Verletzungen auf, dazu die psychische Belastung. »Es gibt keine zwei Nächte hintereinander, wo ich gut schlafen kann«, sagt er. Er arbeitet noch als Elektroinstallateur, Attila Özer wurde wenige Monate nach dem Anschlag arbeitslos. Der 38-Jährige wird demnächst vermutlich einen Antrag auf Frührente stellen.
Für die beiden ist die Geschichte nicht beendet – für das Bundesamt für Justiz schon. Die Zahlungen an die NSU-Opfer seien abgeschlossen, wurde Ende Oktober vermeldet. Insgesamt rund 900.000 Euro sollen deutschlandweit gezahlt worden sein. Abdulla Özkan erhielt insgesamt 10.000 Euro, Attila Özer bekam 12.000 Euro zugesprochen.
Für Jörg Detjen ein Unding. »Zu sagen, die Hilfen seien nun vorbei, ist zynisch. Wir sind mittendrin, der Prozess gegen Beate Zschäpe hat ja gerade erst begonnen«, sagt der Linken-Politiker. Gemeinsam mit seinem SPD-Ratskollegen Walter Schulz hat er einen Offenen Brief an die Stadt geschrieben. Ihre Forderung: Die Opferentschädigung muss fortgeführt werden, in Form eines Beitrags zu einer sinnvollen Opferberatung. Die Stadt Köln und das Land NRW sollen finanzielle Mittel bereitstellen.
Auch Reinhard Schön unterstützt die Initiative. Der Rechtsanwalt vertritt vier Kölner NSU-Opfer, unter ihnen auch Abdulla Özkan und Attila Özer, in einem Beschwerdeverfahren gegen das Bundesamt für Justiz. «Eine wirkliche Opferberatung hat praktisch nicht stattgefunden. Die Menschen sind am Anfang teilweise mal zu Psychologen geschickt worden, das war es dann aber auch.«
Völlig unbeachtet sei bislang vor allem der Aspekt der psychischen Belastung durch die langjährigen Verdächtigungen geblieben. »Dass die Opfer als Tatverdächtige bezeichnet wurden, wurde noch gar nicht berücksichtigt«, so Schön. Auch Özkan und Özer wurden noch am Tatabend zwei Mal verhört, obschon sie offensichtlich unter Schock standen, ein Mal auf dem Polizeipräsidium, ein weiteres Mal morgens um halb drei Uhr bei Özer zu Hause.
Fortan mussten sie mit den Verdächtigungen leben, selbst etwas mit dem Anschlag zu tun zu haben: »Wir wurden häufig blöd angeguckt, in der Presse waren ja auch unsere Fotos herausgekommen im Zusammenhang mit dem Anschlag. Da wurde dann von Zuhälterei geschrieben, von Drogen, von Bandenkrieg«, erinnert sich Özer. »Ich bin jetzt 38 Jahre alt. Ein Fünftel meines Lebens wurde ich als Täter gesehen«, ergänzt Özkan.
Im Moment sei man mit verschiedenen freien sozialen Trägern und dem Oberbürgermeister im intensiven Gespräch, so Detjen. Übernehmen soll die Opferberatung eine dritte, von staatlichen Stellen unabhängige Institution. »Das kann nicht der Staat machen, denn der hat schließlich die Menschen traumatisiert und diskriminiert«, so Detjen. Wichtig sei, dass die Beratung individuell und vor allem aufsuchend sei. »Der Träger muss auf die Opfer zu gehen. Die Leute haben ihr Vertrauen in staatliche Institutionen verloren. Bei der Kölner Pressekonferenz Ende August zum NSU-Untersuchungsausschuss waren nur neun Betroffene da, von insgesamt 23 Opfern. Man muss das wieder aufbauen.«